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Seite 1Orbáns ärgster Feind
Seite 2″Die letzten zwanzig Jahre waren verlorene Jahre“
Drei junge Frauen stehen auf einem Platz unweit des Zentrums der südungarischen Stadt Baja. Die eine arbeitet als Altenpflegerin im österreichischen Linz, die andere will nach ihrem Studium eine Zeit lang nach Kopenhagen, die dritte sucht in Österreich und Deutschland nach Arbeit. Im Ausland Geld verdienen, dann wieder dorthin zurückkehren, wo ihre Familien und ihre Freunde leben – das ist ihr Wunsch. Wenn „das hier“ aber schiefgehe, sagen die drei übereinstimmend, dann seien sie ganz sicher weg, „und zwar für immer!“
Mit „das hier“ sind die ungarischen Parlamentswahlen im April nächsten Jahres gemeint. In den Augen der drei jungen Frauen geht es schief, wenn Viktor Orbán die Wahlen wieder gewinnt.
Als Orbáns Dauerregnum 2010 begann, waren die drei noch Kinder. 2014, 2018, 2022 hieß der Wahlsieger immer wieder Orbán. Für einen jungen Menschen ist diese Zeitspanne eine Ewigkeit – in diesem Fall eine sehr anstrengende. Denn in Orbáns Ungarn zieht die Regierung täglich, ja stündlich in die Schlacht. Mal gegen Migranten, mal gegen die EU, mal gegen den aus Ungarn stammenden amerikanischen Investor und Philanthropen George Soros, mal gegen die LGBTQ-Community, mal gegen die „Feinde des Volkes im Inneren“ – und manchmal gegen alle gleichzeitig. Im Reich Orbáns ist Tag und Nacht ein Fauchen zu hören.
Eine kleine Sensation
Das macht inzwischen viele unruhig, manchen macht es Angst, und bei sehr vielen nährt es den Wunsch, die Herrschaft Orbáns möge endlich ein Ende haben. Wahlforscher nennen das Wechselstimmung.

Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 45/2025. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.
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Die drei Frauen haben sich deshalb an diesem frühen Abend auf die Petöfi-Insel begeben, ein Stadtteil Bajas, umgeben vom Fluss Sugovica. Sie wollen den Mann sehen, der den Wechsel herbeiführen soll: Peter Magyar. Für 18 Uhr ist er angekündigt. Der Platz ist schon lange vorher gut gefüllt. Das ist bereits eine kleine Sensation. Denn Baja wird, wie die meisten ländlichen Gemeinden und Provinzstädte Ungarns, von einem Bürgermeister der Fidesz-Partei regiert. Diese Bürgermeister sind ein zentraler Teil des Orbánschen Machtsystems. Die Regierung in Budapest verteilt das Geld an die Gemeinden. Geld bekommt, wer gefällig ist, den anderen werden finanzielle Mittel verwehrt. Dieses System setzt sich nach unten fort. Der Bürgermeister verteilt in seiner Gemeinde wiederum Geld an die, die gefällig sind. Und so geht es vom Herrn zum Vasallen weiter zum Untertanen. Orbán und seine Fidesz haben in Ungarn einen Neofeudalismus etabliert. „Schauen Sie sich um“, sagt Erika Debrecen, die an diesem Abend ebenfalls auf die Petöfi-Insel gekommen ist. „Sie werden hier vor allem Rentner und Jugendliche sehen. Leute, die für die Gemeinde oder in einem staatlichen Betrieb arbeiten, kommen nicht hierher, aus Angst. Denn ihnen werden Konsequenzen angedroht, wenn sie sich hier blicken lassen.“ Debrecen ist 65 und Rentnerin, sie hat viele Jahre in Deutschland gearbeitet. „Mir kann keiner das Geld nehmen“, sagt sie und verteilt fröhlich Flugblätter mit dem Konterfei von Peter Magyar.
Der 44-Jährige, schlank und sportlich, wirkt schon äußerlich wie ein Kontrast zum 62-jährigen Orbán, der über die Jahre nicht nur Macht, sondern auch Pfunde angesammelt hat. Dabei kommt Magyar aus dem Herzen des Apparats. Er war bis 2024 Mitglied der Fidesz-Partei, arbeitete in wechselnden mittleren Positionen der Regierung. Und er war der Ehemann der damaligen Justizministerin Judit Varga, mit er drei Kinder hat. Gewandt und vielsprachig diente die 45-jährige Spitzenjuristin als weibliches Aushängeschild von Fidesz. Im Februar 2024 allerdings stürzte sie über einen Skandal. Sie hatte der Begnadigung eines Kinderheimleiters, der wegen Missbrauchs Minderjähriger verurteilt worden war, durch die Staatspräsidentin Katalin Nowak zugestimmt. Auch Nowak musste auf Druck Orbáns gehen. Der Skandal erschütterte die Partei bis in ihr Innerstes und drohte Orbán selbst gefährlich zu werden. Denn der präsentiert sich als Hüter der traditionellen Familie. Und nun das: Zwei seiner Spitzenpolitikerinnen lassen einen verurteilten Sexualstraftäter laufen.
Niemand stört sich an seinem Vorgehen
Magyar sah offenbar den Zeitpunkt gekommen, aus dem Schatten seiner Frau zu treten. Wenige Wochen nach ihrem Rücktritt veröffentlichte er den Mitschnitt eines privaten Gesprächs mit ihr, aus ihrer Zeit als Justizministerin. Darin beschreibt Varga, wie andere Regierungsmitglieder sie belastende Gerichtsakten verschwinden lassen wollten. Varga: „Sie schlugen Staatsanwälten vor, welche entfernt werden sollten.“ Die Aufnahme ging viral. Er habe, beteuert Magyar bis heute, den Mitschnitt nur gemacht, um die Korruption auf der Führungsebene des ungarischen Staates anzuprangern. Varga behauptet hingegen, Magyar habe sie misshandelt und erpresst: „Ich habe gesagt, was er hören wollte, damit ich so schnell wie möglich verschwinden konnte.“ Die beiden sind inzwischen geschieden. Diese schmutzige und undurchsichtige Geschichte katapultierte Magyar in das Licht der Öffentlichkeit. Er verließ die Fidesz und gründete seine eigene Partei Tisza. Seitdem tourt er durchs Land. Und lässt Orbán in Umfragen hinter sich.
© Lea Dohle
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An diesem Abend in Baja scheint sich niemand an Magyars Vorgehen zu stören. Als sei nichts dabei, wenn ein Mann heimlich aufgezeichnete Gespräche mit seiner Frau veröffentlicht. Peter Magyar habe gezeigt, wie korrupt die Staatsführung sei, heißt es unter den Versammelten. Er habe damit Ungarn gedient.
Klar ist: Viktor Orbán hält sich seit Jahren mit sehr unsauberen Mitteln an der Macht. Er drangsaliert Medienunternehmen, lässt Fake-News verbreiten und Verleumdungskampagnen organisieren, Magyar weiß das natürlich. Eine Äußerung von ihm zur Steuerpolitik reichte, und Orbáns Propagandaapparat verteilte Haussendungen mit der Behauptung, Magyar werde als Regierungschef die Steuern erhöhen. Seither prangert dieser Orbán wegen Misswirtschaft und Korruption an, hält sich aber mit konkreten Reformvorschlägen zurück. Er wolle ein normales, lebenswertes Ungarn, das in einem guten Verhältnis zur EU stehe. Ungarn müsse im Westen verankert bleiben. Dort gehöre es hin. Konkreteres bekommt man von ihm nicht zu hören. Er will den Wunsch nach einem Neuanfang bedienen, aber bloß keine Angriffsfläche bieten. Auch nicht beim Thema Ukraine. Während Orbán immer wieder Nähe zu Moskau demonstriert und sich in Erwartung eines Treffens zwischen Donald Trump und Wladimir Putin in Budapest als Friedensfürst inmitten einer angeblich kriegslüsternen EU darstellte, bleibt Magyar eher unverbindlich. Er sei gegen einen schnellen EU-Beitritt der Ukraine, viel mehr sagt er nicht. Zu groß die Sorge, er könnte von Orbáns Propagandamaschine als Kriegshetzer denunziert werden.