Beim EU-Gipfel einigen sich die Europäer auf eine härtere Gangart gegen Russland, nicht aber zur Nutzung russischer Auslandsvermögen für die Ukraine. Für Kiew ist das ein Rückschlag. Die Abstimmung über das Lieferkettengesetz führt zu Spannungen – und bringt den Kanzler in Erklärungsnot.

Als Friedrich Merz in der Nacht zum Freitag um exakt 23 Uhr den Presseraum betritt, sieht er müde aus. Der Tag hatte für den Kanzler bereits im Morgengrauen um 6.30 Uhr mit der ersten Sitzung begonnen. Aber Merz hat beste Laune in dieser Nacht, es sprudelt aus ihm heraus. „Das war ein sehr produktiver Europäischer Rat“, sagt er nach Ende des EU-Gipfels in Brüssel vor Journalisten. Zwei Minuten später dann: „Ich bin sehr zufrieden mit dem Tag heute.“

Die Wahrheit ist: Der 13-stündige EU-Gipfel plätscherte vor sich hin und bot Licht und Schatten. Immerhin konnten sich die Europäer nach wochenlangem Tauziehen erwartungsgemäß auf neue Sanktionen gegen Russland verständigen. Aber die dringend notwendige Einigung auf die Nutzung der milliardenschweren russischen Auslandsvermögen gelang nicht und erwies sich viel komplizierter als gedacht.

Zudem spielte sich am Rande des Gipfels eine Episode ab, die Brüssel noch lange beschäftigen dürfte. Mitten im Getümmel: Friedrich Merz, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und die allseits respektierte EU-Parlamentspräsidentin Roberta Metsola – alle drei gehören der Europäischen Volkspartei (EVP), der Vereinigung der europäischen Christdemokraten, an.

Das Dramolett begann am Donnerstagmorgen kurz vor zehn Uhr. Merz eilte ins Tagungsgebäude, das mitten im Brüsseler Europaviertel liegt. Er war geladen – und legte sofort los: Es sei einfach „inakzeptabel“, dass das EU-Parlament am Vortag das sogenannte EU-Lieferkettengesetz vorerst zu Fall gebracht habe. Er nannte das Ergebnis der Abstimmung im Parlament eine „fatale Fehlentscheidung“.

Merz steht unter Druck: Aus der deutschen Wirtschaft gibt es wegen des hohen bürokratischen Aufwands große Kritik an dem Lieferkettengesetz. Nach dem Gesetz sollen große Unternehmen zur Rechenschaft gezogen werden, wenn sie von Menschenrechtsverletzungen wie Kinder- und Zwangsarbeit profitieren.

Merz‘ Parteifreundin Metsola war als Präsidentin des EU-Parlaments auch beim Gipfeltreffen anwesend. Sie war aufgebracht und entgegnete in Richtung Merz: „Ich würde die demokratische Unabhängigkeit und die institutionelle Befugnis des Parlaments, seine Position zu verteidigen und die Bürger zu vertreten, nicht infrage stellen.“ Und der Chef der deutschen Sozialdemokraten im EU-Parlament, Rene Repasi, blaffte, das EU-Parlament sei kein „Abnickverein“ für die Wünsche der Regierungen. „Es steht einem nationalen Regierungschef wie Kanzler Merz nicht an, das Europäische Parlament, das ihm gegenüber nicht rechenschaftspflichtig ist, für eine demokratische Mehrheitsentscheidung zu kritisieren.“

Lieferkettengesetz wirft Fragen auf

Merz ließ sich davon nicht beirren. Am Abend legte der Kanzler nach. Dieses Mal nannte er die Abstimmung einen „schweren Rückschritt“. Er wolle das EU-Parlament, so der Kanzler, „dringend bitten“, künftig eine „konstruktive Zusammenarbeit“ zu pflegen. Von der Leyen schwieg offiziell zu dem Streit.

Dabei hatte die Niedersächsin vorher schon ein paar Seitenhiebe von Merz einstecken müssen. Ein Brief, den der Kanzler unmittelbar vor dem Gipfeltreffen initiiert und zusammen mit 20 Regierungschefs unterschrieben hatte, forderte die EU-Kommission indirekt auf, beim Bürokratieabbau endlich aufs Gaspedal zu drücken. Merz ist unzufrieden mit von der Leyen. Sie ist ihm zu langsam, zu grün und zu rot. Er will jetzt einen Regulierungsstopp. „Es ist einfach zu viel“, sagte er kürzlich. Man müsse, ätzte der Kanzler, Brüssel „jetzt mal das Stöckchen in die Räder halten“. Er forderte auch schnelle Entscheidungen, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie wieder herzustellen, „die wir im Augenblick dramatisch verlieren“.

Meint Merz das ernst? Ist er wirklich überzeugt davon, dass etwa die eklatante Wettbewerbsschwäche der deutschen Automobilindustrie an den Gesetzen aus Brüssel und nicht an den eigenen Fehlern liegt? Oder sucht Merz in Brüssel nur einen Sündenbock für die schlechte Stimmung bei zahlreichen Unternehmen und die enttäuschten Erwartungen vieler Bürger in Deutschland?

Lesen Sie auch

  • Weltplus ArtikelLieferkettengesetz

In jedem Fall war Merz nicht ganz unschuldig an der Pleite im EU-Parlament. Er hatte es offenbar versäumt oder es ist ihm nicht gelungen, den Koalitionspartner SPD in Berlin davon zu überzeugen, dass die sozialdemokratischen Europaabgeordneten aus Deutschland geschlossen für eine Lockerung des Lieferkettengesetzes stimmen sollten. „Der klare Ball liegt heute bei den Sozialdemokraten. Die müssen jetzt schauen, was sie liefern“, sagte EVP-Chef Manfred Weber (CSU).

Tatsächlich gibt es nach der Abstimmung über das Lieferkettengesetz grundsätzliche Fragen: Wo sollen künftig die Mehrheiten für wirtschaftsfreundliche Gesetze und eine härtere Migrationspolitik herkommen, wenn die Sozialdemokraten sich nicht an vorherige Absprachen mit der EVP und den Liberalen halten? In hohen Kreisen des EU-Parlaments hieß es, Merz habe durch sein „Gepolter“ der Sache geschadet. Er solle sich künftig in Brüssel „stärker zurückhalten“.

Neue Russland-Sanktionen

Aber es war aus Sicht von Merz auch nicht alles schlecht an diesem Tag. Der wichtigste Erfolg dieses Gipfels ist, dass seit Donnerstagabend bereits neue Sanktionen der EU-Staaten gegen Russland in Kraft sind. „Ich freue mich sehr darüber“, sagte der Kanzler. Die Slowakei hatte ihren wochenlangen Widerstand gegen das 19. Sanktionspaket zuletzt aufgegeben.

Die Maßnahmen sehen unter anderem vor, Russlands Einnahmen aus dem Verkauf von Gas und Öl weiter zu reduzieren. Dazu gilt ein vollständiges Importverbot von Flüssigerdgas (LNG) aus Russland schon ab 2027 und damit ein Jahr früher als ursprünglich geplant. Zudem gelten weitere Strafmaßnahmen im Finanzsektor und im Handelsbereich sowie Einschränkungen der Bewegungsfreiheit russischer Diplomaten innerhalb der EU.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, der auch zum EU-Gipfel geladen war, zeigte sich erleichtert. „Diese Entscheidung über das 19. Sanktionspaket ist für uns von enormer Bedeutung“, sagte er in Brüssel. Russland zeige mit seinen andauernden Angriffen auf zivile Einrichtungen, dass das Land kein Interesse an Frieden habe. Daher sei es wichtig, weiter Druck auf Putin auszuüben.

Zu von den USA verhängten Sanktionen sagte er: „Darauf haben wir gewartet. So Gott will, wird es funktionieren.“ Erstmals in der zweiten Amtszeit von Präsident Donald Trump hatte die US-Regierung am Mittwochabend neue Sanktionen direkt gegen Russland verhängt – konkret gegen große russische Öl-Firmen. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen kommentierte: „Wir werden nicht nachlassen, bis die Menschen in der Ukraine einen gerechten und dauerhaften Frieden haben.“ Indem man jetzt den Gassektor Russlands ins Visier nehme, treffe man das Herz seiner Kriegswirtschaft.

Neben den Maßnahmen zum Flüssigerdgas wird mit dem neuen Sanktionspaket weiteren Banken aus Russland und befreundeten Ländern der Zugang zu den EU-Kapitalmärkten verwehrt und Transaktionen mit ihnen verboten. Zudem wird verstärkt gegen die Nutzung von Kryptowährungen vorgegangen, die auch zur Umgehung von bestehenden Sanktionen dienen.

Im Handelsbereich gibt es etwa neue Exportverbote für Güter und Dienstleistungen, die von der russischen Rüstungsindustrie genutzt werden können oder die russischen Industriekapazitäten stärken. Dazu gehören bestimmte Chemikalien und Baumaterialien oder Dienstleistungen aus dem Bereich Künstliche Intelligenz. Zudem gelten Handelsbeschränkungen gegen weitere Unternehmen aus Ländern wie China und Indien, die mit Russland Geschäfte betreiben.

Russlands Machthaber Wladimir Putin nannte die neuen Sanktionen einen „unfreundlichen Akt“. Vor allem die neuen US-Sanktionen sind Moskau ein Dorn im Auge. Putin räumte ein, sie würden „bestimmte Folgen“ für Russland haben, ohne allerdings der russischen Wirtschaft wirklich schaden zu können.

Inwieweit sich der Importstopp für Flüssigerdgas ab 2027 für deutsche Verbraucher auswirken wird, ist derzeit unklar. Denkbar ist, dass eine verstärkte Nachfrage von europäischen Importeuren nach Gas, das nicht aus Russland stammt, die Weltmarktpreise ansteigen lässt. Es könnte aber auch sein, dass der Ausbau einer sogenannten LNG-Importinfrastruktur das Angebot auf dem Weltmarkt erhöht und es letztlich nicht zu Preissteigerungen kommen wird.

Nutzung russischer Auslandsvermögen weiter unklar

Überraschend an diesem Tag war: Die von der EU-Kommission und Merz vorgeschlagene Nutzung des russischen Auslandsvermögens für einen Kredit über maximal 140 Milliarden Euro für die Ukraine („Reparationsdarlehen“) bleibt weiterhin offen. Das ist ein Rückschlag für Kiew, denn der Ukraine sollen mit den Milliarden die Militärausgaben der kommenden zwei bis drei Jahre finanziert werden. Der Plan ist ein zentraler Baustein bei der weiteren Unterstützung der Ukraine, auch weil die EU-Länder bei den Ausgaben für die Ukraine aus den nationalen Haushalten immer mehr an ihre Grenzen stoßen.

Nach stundenlangen Verhandlungen über die mögliche Verwendung von eingefrorenen russischen Vermögen für die Ukraine haben sich die Staats- und Regierungschefs letztlich nur auf einen Minimalkompromiss einigen können. In der Abschlusserklärung des Gipfels beauftragten sie am Donnerstagabend die EU-Kommission lediglich damit, Optionen für die finanzielle Unterstützung der Ukraine zu prüfen. Die russischen Vermögenswerte sollen demnach so lange eingefroren bleiben, bis Russland „die durch seinen Krieg verursachten Schäden kompensiert“.

EU-Diplomaten zufolge schließt diese Formulierung nicht aus, dass die Kommission auch die Nutzung russischer Vermögen in ihre Überlegungen einfließen lässt. Die Gipfelerklärung blieb damit allerdings weit hinter der ursprünglich anvisierten Einigung zurück. Geplant war ursprünglich, die Kommission konkret damit zu beauftragen, eine rechtssichere Umsetzung des Vorhabens zu erarbeiten. Insbesondere Belgien machte jedoch massive rechtliche Bedenken geltend. Regierungschef Bart de Wever fürchtet unter anderem, dass sein Land finanzielle Risiken durch mögliche Gegenmaßnahmen Russlands allein tragen müsste, weil der überwiegende Teil der russischen Gelder in seinem Land liegt.

Kanzler Merz sagte dazu: „Wenn ich der belgische Ministerpräsident wäre, hätte ich dieselben Argumente vorgetragen.“ Hohe Diplomaten erklärten, die EU-Kommission habe es sich bei der Vorlage des bisherigen Vorschlags „etwas zu einfach gemacht“ und das Risiko von Prozessen und Klagen durch den russischen Staat vor einem Schiedsgericht vernachlässigt. „Das ist nicht trivial“, sagte Merz.

Stefan Beutelsbacher ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet über die Wirtschafts-, Handels- und Klimapolitik der EU. Zuvor war er US-Korrespondent in New York.

Christoph B. Schiltz ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet unter anderem über Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, die europäische Migrationspolitik, die Nato und Österreich.