Ukraine, Südkaukasus, Naher Osten: Europas Nachbarschaft wird von Amerika nach eigenem Gutdünken gestaltet. Dabei will der Kontinent doch unabhängig sein.
Ursula von der Leyen und Wolodimir Selenski auf dem Gipfeltreffen der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Kopenhagen im Oktober.
Piroschka Van De Wouw / Reuters
Am Dienstag verkündete die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen in einer Rede vor dem Europäischen Parlament, das Arbeitsprogramm der Kommission sei ganz auf «Europas Moment der Unabhängigkeit» ausgerichtet. In diesem Jahrzehnt, so von der Leyen, werde «eine neue internationale Ordnung entstehen». Wenn «wir über Europas Unabhängigkeit sprechen, dann sprechen wir über unsere Fähigkeit, diese neue Ordnung zu gestalten».
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Das Ergebnis von Russlands Krieg gegen die Ukraine werde Europas Sicherheitsordnung für Jahrzehnte prägen, sagte die Kommissionspräsidentin. Putins Kriegswirtschaft und seine «imperialen Illusionen» würden auch dann nicht verschwinden, wenn der Krieg ende.
Von der Ostflanke bis zur südlichen Grenze müsse sich Europa gegen Bedrohungen wappnen: von Drohnen über hybride Kriegsführung bis hin zu Terrorismus und den Folgen des Klimawandels. Europa müsse «für seinen Platz in einer Welt kämpfen, in der einige grosse Mächte uns gegenüber entweder ambivalent oder feindlich eingestellt sind». Ursula von der Leyens Rede stellte eine robuste Ansage dar – so scheint es jedenfalls.
Die Rhetorik der Souveränität
Mit dem Begriff der «Unabhängigkeit» greift von der Leyen die Rhetorik auf, die in den vergangenen Jahren immer wieder von Emmanuel Macron genutzt wurde: Europa müsse «souverän» und «autonom» werden, sagte der französische Präsident in zahllosen Reden und Statements, die ihm europaweit viel Zustimmung einbrachten.
Das zielte allerdings weniger auf Russland oder China als vielmehr auf die USA. Macron kam im Mai 2017 ins Amt, vier Monate nach Trump, dessen Einzug ins Weisse Haus die Europäer schockiert hatte. Sie hatten auf Hillary Clinton gesetzt und damit auf die Fortsetzung der Obama-Politik. Merkel setzte damals den Ton, als sie nach der Wahl Trumps verkündete, sie sei zwar bereit, mit dem neuen Präsidenten zusammenzuarbeiten – aber nur auf Basis einer Reihe von Werten, die sie ausführlich auflistete.
Es war eine Gelegenheit, die sich Paris nicht entgehen liess. Macron, der Verehrer des Amerika-Skeptikers Charles de Gaulle, sah in dieser sich anbahnenden transatlantischen Krise den Moment, um Europa unter französischer Führung zu einigen und von Amerika unabhängig zu machen – oder zumindest unabhängiger.
Bei diesem Projekt war nicht nur die europaweite Irritation über den Rechtspopulisten Trump hilfreich, gerade auch im Lager der treuen Transatlantiker in Deutschland. Ebenso wichtig war, dass der Machtrivale Grossbritannien, der traditionell engste europäische Bündnispartner der USA, im Juni 2016 per Referendum beschlossen hatte, die EU zu verlassen. Der Weg für die Durchsetzung der französischen Machtstrategie schien frei zu sein.
Jetzt geht Macrons Präsidentschaft langsam dem Ende zu, doch von europäischer Souveränität, Unabhängigkeit oder Autonomie im Verhältnis zu Amerika ist nichts zu sehen. Im Gegenteil: Europa ist heute weitaus abhängiger von den USA als zu Zeiten von Macrons Amtsantritt. Ein passives, in wesentlichen Fragen uneiniges Europa wartet darauf, dass Washington Initiativen ergreift, zu denen es sich dann verhalten kann – mal eher zustimmend, mal eher mürrisch-ablehnend. Ein kollektiver Gestaltungswille ist nicht erkennbar.
Trump führt bei der Ukraine
Am brutalsten wird das am Krieg in der Ukraine deutlich. Als eine Reihe wichtiger europäischer Staats- und Regierungschefs sowie die EU-Kommissions-Präsidentin im August nach Washington jetteten, um dem ukrainischen Präsidenten Selenski bei seinem Treffen mit Trump beizustehen, sassen die Europäer vor laufenden Kameras wie Schüler um den amerikanischen Präsidenten herum und baten ihn, in vorher genau abgesprochenen Statements, geradezu unterwürfig um Hilfe.
Von Beginn an hatten die Europäer Washington die Initiative überlassen. Frankreich und Deutschland führten die Gespräche mit Putin, solange es ging. Als es ernst wurde und Russland im Februar 2022 in die Ukraine einmarschierte, wurden die USA zum zentralen Akteur und die Europäer zu den Assistenten des amerikanischen Präsidenten.
Wieder und wieder zeigte sich, dass die Europäer ohne amerikanisches Vorangehen und ohne amerikanische strategische Führung nicht handeln. Offenkundig wurde, dass sie das Risiko scheuten, ohne amerikanische Rückdeckung in eine konfrontative Situation mit Russland zu kommen. Selbst dort, wo das Risiko gering war, wie bei der Finanzierung von bereits etablierten Waffenlieferungen, blieben sie weit unter ihren Möglichkeiten. Trotz hochfliegender Rhetorik blieb es dabei: Europa machte zu wenig zu spät.
Die Jahre des Krieges in der Ukraine, in denen die Europäer bei der Verteidigung ihrer Sicherheitsordnung «Souveränität» hätten demonstrieren können, verstrichen ungenutzt. So lief alles auf Trump als «Friedensstifter» hinaus – es ist eine selbstverschuldete Unmündigkeit der Europäer. Im Ergebnis sieht Europa heute mehr denn je wie ein sicherheitspolitischer Annex der USA aus.
Zuschauer im Südkaukasus und im Nahen Osten
Doch nicht nur in Bezug auf die kriegerische Eskalation in der Ukraine bleiben die Europäer passiv. Die mit grossem Nachdruck auf Initiative von Macron im Oktober 2022 gegründete Europäische Politische Gemeinschaft hat zu nichts geführt.
Die Idee, eine Plattform für einen weiteren Europabegriff zu schaffen, bei der neben der EU auch Grossbritannien, die Schweiz und die Türkei sowie Länder Osteuropas und des Südkaukasus zusammenkommen, war gut. Doch statt dass auf deren Gipfeltreffen klare Handlungsanweisungen insbesondere gegenüber Russland formuliert wurden, entstand nur ein weiteres unverbindliches Gesprächsformat ohne strategische Richtung.
So blieb es wiederum Washington vorbehalten, die Chancen im Südkaukasus zu ergreifen und Moskaus Zugriff zu schwächen. Obwohl die EU seit vielen Jahren in der Region eine «Nachbarschaftspolitik» der Annäherung verfolgt, kümmern sich die europäischen Hauptstädte kaum darum, die Lage in der Region zu stabilisieren und ihre Westanbindung zu stärken.
In einem Überraschungscoup gelang es Trump, den fragilen Friedensprozess zwischen Armenien und Aserbaidschan in einen Deal im Weissen Haus überzuführen. In Washington erkannte man, dass beide Länder ebenso wie die USA Interesse daran hatten, Russlands Dominanz zu beenden und eine dauerhafte Friedensordnung aufzubauen. Nicht am Tisch sassen die Europäer, von denen keine entschlossene diplomatische Initiative ausgegangen war.
Auch im Nahen Osten sind die Europäer nur Zaungäste. Die neue Ordnung in der Region wird von den USA und ihren Verbündeten dominiert: Israel, den Golfstaaten, der Türkei und Ägypten. Der Gegenspieler ist Iran. Seine Ambitionen auf eine Vormachtstellung im Nahen Osten sind vorerst gescheitert. Auch bei einer Stabilisierung der Lage in der Region gibt es für das Land wenig Hoffnung, in Syrien, Libanon und in Gaza erneut entscheidenden Einfluss zu gewinnen.
Obwohl die EU seit Jahren der grösste Geldgeber der Palästinenser ist, war sie an den Verhandlungen zur Beendigung des jüngsten Gaza-Kriegs nicht beteiligt. Und in dem von Trump geplanten Friedensrat, der die Stabilisierung kontrollieren soll, ist für die Europäer offenbar kein Sitz vorgesehen.
Die Handlungsschwäche der EU
Nie war die Rhetorik der EU ambitionierter als mit dem von der Kommissionspräsidentin verkündeten «Moment der Unabhängigkeit» und der tagtäglich geforderten «Souveränität» der EU. Zugleich war Europas aussen- und sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA seit Jahrzehnten nicht so gross wie heute.
Das Problem liegt erstens darin, dass die EU-Staaten unterschiedliche aussen- und sicherheitspolitische Interessen und Sichtweisen haben. Kommt es zu einer Einigung, dann dauert es lange, weil alle ins Boot geholt werden müssen. Und um einen Kompromiss zu erreichen, werden in der Regel alle entschiedenen Formulierungen aus dem Entwurf herausgenommen.
Zweitens liegen die Ressourcen für aussen- und sicherheitspolitisches Handeln bei den Mitgliedstaaten, die wenig Neigung zeigen, sich von der Kommission oder der Hohen Beauftragten der EU für Aussenpolitik irgendetwas vorschreiben zu lassen.
Zugleich nutzen die Mitgliedstaaten aber oft genug die EU-Ebene, um ihr eigenes Nichthandeln zu legitimieren. Bei einem Problem wird auf die vermeintlich höhere Ebene der EU verwiesen. Nationale Regierungen können dann argumentieren, dass sie doch etwas tun, um das Problem zu bearbeiten – auch wenn de facto nichts passiert.
Brüssel wäre besser beraten, sich von der überambitionierten Rede von «Unabhängigkeit» und «Souveränität» zu verabschieden und etwas kleiner zu denken – dies aber professionell zu tun.
Je mehr sich die EU in den Bereich der Utopie bewegt, desto stärker applaudieren ihr zwar die EU-Enthusiasten. Doch je höher die Erwartungen geschraubt werden, desto grösser ist die Enttäuschung, wenn die EU wieder einmal nicht liefert. Nicht nur in den europäischen Hauptstädten, auch bei den grossen Mächten der Welt wird die EU als kollektiver Akteur dann immer weniger ernst genommen. Das Ergebnis lautet: nicht weniger, sondern mehr Abhängigkeit.

