Mit 102 Jahren bleibt Magdalena Linsner aus Wiesbaden neugierig und selbstbestimmt – ein Leben zwischen Büchern, Familie, Nachbarn und klarem Blick auf die Stadt.

Das Telefon klingelt, freundlich und regelmäßig wie ein vertrauter Takt. Ihr Sohn nimmt das Gespräch entgegen und sagt später, „das war Portugal, die rufen später noch einmal an.“ Die 102-Jährige ist hellwach und im Gespräch vertieft. Seit mehr als 60 Jahren in der Albrecht-Dürer-Straße zu Hause – zuerst im Erdgeschoss, später eine Etage höher. Wer sie besucht, merkt sofort: Magdalena Linsner lebt ganz in der Gegenwart.

Von Nassau an die Lahn bis in die Landeshauptstadt

Geboren 1923 in Nassau an der Lahn, wuchs Magdalena Linsner, geborene Schuster, in Miellen auf. Sie sah, wie 1933 das Kruzifix aus dem Klassenzimmer verschwand und ein Lehrer aus Berlin das Hitlerbild an die Wand hängte. Ihr Vater war Gegner der Nationalsozialisten, was die Familie zu spüren bekam. Sie wollte Krankenschwester werden, durfte es nicht. Nach dem Krieg arbeitete sie im Wiesbadener Möbelhaus Danker, wo sie 1948 ihren späteren Mann Otto traf. „Liebe auf den ersten Blick“, erinnert sagt sie gleich, als sei sie ihm gestern erst begegnet. 1950 die Hochzeit, kurz darauf der Umzug in die Albrecht-Dürer-Straße. Otto wurde Fahrer im Finanzministerium, später Verwaltungsangestellter – und sie hielt die Fäden des Lebens zusammen.

Wissen als Lebensform

Wenn sie etwas interessiert, kauft sie sich ein Buch – und liest, bis sie es verstanden hat. Ihre kleine Bibliothek ist ihr Herzstück. „Ein Buch muss man fünfmal lesen“, sagt sie. So hat sie Geschichte, Politik und auch Fußball gelernt. Ihr Sohn Michael spielte als kleiner Junge begeistert auf den Wiesen des Viertels. Er wollte damals unbedingt ein Trikot mit der Nummer 7 tragen – die Schwiegermutter nähte sie aufs Trikot, aber verkehrt herum. Leicht schräg. „So war er der stolzeste Junge mit einer 1 auf dem Rücken.“

Ein Netz aus Nähe

Sie lebt nicht allein, sondern inmitten eines stillen Netzwerks. Sohn Michael und Schwiegertochter Corinna erledigen die Bankangelegenheiten und Frau Orlando – Nachbarin und Freundin – schaut zweimal am Tag vorbei. „Sie behandelt mich, als wär’ ich ihre Mutter“, sagt Magdalena dankbar. Auch wenn sie alle Bewohner im haus überlebt hat, funktioniert es im Haus und ihrem Umfeld mit der Fürsorge ohne große Worte. „Ich bin gut versorgt, aber ich bestimme selbst.“

Wiesbaden im Wandel

Magdalena Linsner hat viele Oberbürgermeister erlebt – manche mochte sie, andere weniger. Sie erinnert sich gut an Rudi Schmit, der 1968 Oberbürgermeister von Wiesbaden wurde. Gute Erinnerungen hat sie auch an den OB den mit den längeren Haaren, Achim Exner. Nur seine Entscheidung, den alten Friedhof zu öffnen und ein Freizeitgelände daraus zu machen, das versteht sie bis heute nicht. „Wie kann man auf Gräbern spielen lassen? Ein Friedhof bleibt ein Ort der Ruhe“, sagt sie ernst.
Wiesbaden hat sich verändert, sagt sie. Früher sei die Stadt stiller gewesen, heute höre sie vom Fenster aus die Busse und das Leben. „Das ist schön – Wiesbaden ist wach geblieben, so wie ich.“

Magdalena Linder lässt es sich nicht nehmen uns zur Türe zu bringen. „Wir sehen uns wieder, versprochen.“ Vielleicht im Cafe Maldaren. ©2025 Volker WatschounekMagdalena Linder lässt es sich nicht nehmen uns zur Türe zu bringen. „Wir sehen uns wieder, versprochen.“ Vielleicht im Cafe Maldaren. ©2025 Volker Watschounek

Alt genug für den Rollator

Mit 102 in die Jahre gekommen: Lange wehrte sie sich gegen den Rollator, das sei doch was für alte Leute, sagte sie bei unserem letzten Besuch und wiederholt es auch heute wieder. „Mit 102“, lacht sie und setzt fort „bin ich wohl alt genug.“ Nächste Woche kommt er, und sie nimmt es mit Humor – wie alles in ihrem Leben. Der sei aber nur für zu Hause. Wenn sie raus geht, dann nimmt Sohn Michael sie an den Arm. Vielleicht, sagt sie zum Abschied, verabreden wir uns ja einmal im Café Maldaner. „Dort gibt’s leckeren Kuchen die besten Geschichten.“

Kein Stillstand

Sie liest, hört Radio, verfolgt Politik, bleibt humorvoll und klug. „Ich brauche kein Internet“, sagt sie. „Mein Telefon reicht, um mit der Welt verbunden zu sein.“ Ein Jahrhundert Leben – gesammelt in einer Stimme, die hell und freundlich klingt.

Foto – Magdalena Linder mit Sohne Michael ©2025 vwa

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1923, 102 Jahre ist das her. Was alles so passierte lesen Sie unter auf www.wikipedia.de.