Herr Rabbiner Teichtal, wie geht es dem jüdischen Leben in Deutschland heute?
Gott sei Dank – wunderbar! Das jüdische Leben wächst und entfaltet sich in seiner ganzen Vielfalt. Erst vor kurzem konnten wir die achte Synagoge der Jüdischen Gemeinde Chabad Berlin feierlich eröffnen. Auf dem Jüdischen Campus lernen und spielen täglich über 400 Kinder. Gleichzeitig jedoch ist der Gesellschaft auch ein spürbarer und zunehmender Antisemitismus wahrzunehmen.
Erst heute habe ich eine besorgte Nachricht von einem Gemeindemitglied bekommen. Ein Mann fragte, ob man Deutschland verlassen müsse. Ich habe ihm geantwortet: Das jüdische Volk hat fast immer Traumata und Schwierigkeiten durchleben müssen. Aber unsere Aufgabe ist es, nicht aufzugeben. Wir sind Botschafter des Lichts, der Liebe und Freude. Wir sollen Vorbilder sein an Güte und Gnade. Verhindere die Dunkelheit, das ist die jüdische Antwort auf Bedrohungen.
Das sind starke Worte in einer Zeit des zunehmenden öffentlichen Antisemitismus.
Wer heute gegen Juden ist, ist morgen gegen Frauen und übermorgen gegen alle, die Freiheit und Demokratie schätzen. Deshalb ist der Kampf gegen Antisemitismus ein Kampf um unsere freiheitliche Existenz insgesamt. Wobei, das will ich klarstellen, ich mit Kampf keine gewaltsame Auseinandersetzung meine, sondern ein Ringen um die Köpfe.
Yehuda Teichtal bei einer Kundgebung in Berlin anlässlich der Freilassung der letzten lebenenden israelischen Hamas-Geiseln am 13. Oktober 2025.
Foto: Annette Riedl/dpa
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Manche Ihrer Gemeindemitglieder denken über Auswanderung nach. Und gleichzeitig planen Sie in Berlin-Wilmersdorf eine größere Synagoge.
Ja, sie soll Platz für 600 Personen bieten und Deutschlands größte aktive Synagoge werden. Wir haben jetzt die Grundstücke gesichert, auf denen gebaut werden soll, und sind dabei, die Mittel für den Bau zu akquirieren. Ein Teil des Geldes ist bereits vorhanden, aber es fehlen noch Mittel. Das wird natürlich teuer, aber kennen Sie diesen Witz? Ein Rabbi kommt in das Gemeindezentrum und sagt: Liebe Freunde, es gibt gute Nachrichten und schlechte Nachrichten. Die guten Nachrichten: Wir haben die 30 Millionen Euro, die wir für den Bau eines neuen Gemeindezentrums brauchen. Die schlechte Nachricht: Das Geld liegt in euren Taschen.
Warum Yehuda Teichtal bei Social Media so aktiv ist
Sie kommen aus den USA …
Ich wurde in einem kleinen Ort namens New York City geboren.
… haben Sie mittlerweile auch einen deutschen Pass?
Ja. Meine Kinder sind hier geboren, meine Enkelkinder sind hier geboren. Meine Frau und ich, wir bekennen uns: Unsere Aufgabe ist es, jüdisches Leben hier in Berlin zu sichern und zu stärken. Was in Berlin passiert, hat eine bundesweite Bedeutung.
Sie sind auf Social Media sehr aktiv und erzählen dort viel über das Judentum. Wer ist da Ihr Adressat?
Toleranz kann nur wachsen, wenn wir miteinander in einen offenen Austausch kommen. Ich will Werte vermitteln und Ideen davon, wie wir miteinander leben können. Schließlich sind alle Menschen als Ebenbild Gottes geschaffen worden, wir alle haben eine gemeinsame Verantwortung. Wir sind nicht nur hier, um zu essen, zu trinken, zu arbeiten, Urlaub zu machen und irgendwann zu sterben.
Unsere Aufgabe ist vielmehr, die Welt zu einem Zuhause zu machen für Gott. Gutes zu tun, Menschen zu helfen, Leuchttürme zu sein. Ich habe bei unserem Rebbe Menachem Mendel Schneerson (einer der wichtigsten zeitgenössischen Gelehrten des chassidischen Judentums, Anmerkung der Redaktion) gelernt: „Wenn es dunkel ist, bringt Licht!”
Bundespräsident Steinmeier und Rabbiner Teichtal
Archivfoto: dpa/Bernd von Jutrczenka
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Lassen Sie uns über Gott sprechen.
Natürlich.
Ist Gott allmächtig? Das sagt der Rabbiner
Mir scheint: Die Schriften des Tanach – Christen kennen die Schriften als sogenanntes Altes oder Erstes Testament – sind voll von Widersprüchen im Verständnis der Menschen von Gott. Einerseits gilt Gott als allmächtiger Weltenlenker, andererseits gibt es viele Situationen, in denen Menschen sich frei entscheiden, auch gegen die Weisung Gottes. Wie gehen Sie mit diesem theologischen Problem um?
Das ist überhaupt kein Problem: Natürlich ist Gott allmächtig. Gott hat alles geschaffen, schafft alles, er ist alles. Gleichzeitig hat der Mensch die freie Wahl. Aber das ist kein Widerspruch. Gott lässt uns frei agieren, aber er weiß, was wir tun werden.
Ja?
Der menschliche Geist funktioniert wie die Wissenschaft: Wir nehmen bekannte Ereignisse und Zusammenhänge und nutzen sie als Prognose für die Zukunft. Gott aber ist durch Zeit nicht begrenzt. Er weiß ganz genau, was wir tun werden, aber er lässt uns entscheiden. Wie ein Elternteil, der genau weiß, wie ein Kind reagiert, wenn es müde oder hungrig ist. Das kennt jeder, der Kinder hat.
Gott gibt uns Hinweise darauf, was wir tun können, wenn wir Gutes tun wollen. Aber er hält uns auch nicht auf, wenn wir anders handeln. Trotzdem ist aus jüdischer Sicht, vor allem in der Philosophie des Chassidismus klar, dass jedes Ereignis in der Welt Gott bekannt ist. Über gute Taten der Menschen freut sich Gott, wegen schlechter Taten und Entscheidungen weint er.
Hat Gott Auschwitz gewollt? Das sagt der jüdische Theologe
Sind Gräuel wie der Hamas-Überfall vom 7. Oktober 2023 oder gar der Holocaust von Gott gewollt?
Natürlich wollte Gott nicht, dass Menschen Böses tun und ihnen Schlechtes widerfährt. Er will es nie. Wir kennen nicht die Antwort auf die Frage, wo Gott in Auschwitz war. Wir kennen sie einfach nicht. Aber das erschüttert unseren Glauben nicht. Es gibt schließlich viele Dinge, die wir nicht verstehen. Und ich möchte auch keine Erklärung dafür hören, denn Auschwitz ist einfach inakzeptabel. Jeder einzelne Mord an nur einem Menschen ist inakzeptabel.
Was mich mehr bewegt: Dass wir alles tun, um uns für Toleranz, Respekt und ein Miteinander einzusetzen. Diese Verantwortung hat jeder in Deutschland, egal, woher seine Vorfahren kommen. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber die Zukunft gestalten.
Gibt es ein Gebet, ein religiöses Ritual, das für Sie besonders wichtig ist?
Das allererste Gebet am Morgen. Darin geht es um Dank. Der Anfang des Morgens bestimmt den Rest des Tages. Deshalb ist mein erstes Wort am Morgen „Danke”. Für Anerkennung, Inspiration, Bewegung, Lebendigkeit, Freude – danke! Gott gibt uns so viel, obwohl er uns nichts schuldet. Wir haben die Pflicht, diese Geschenke nicht nur für uns zu behalten, sondern sie weiterzugeben. Wer sie weiterschenkt, findet auch den Sinn im Leben.
Warum?
So viele Menschen sind heute unglücklich und einsam. Warum? Weil sie nicht wissen, weshalb sie hier sind. Die Aufgabe von uns Menschen ist es, einander zu helfen. Mehr Glück in die Welt zu bringen, mehr Liebe zu schenken, Positives zu teilen. Das macht mindestens zwei Menschen glücklich, den Empfänger und den Sender. Nur etwas zu besitzen, macht hingegen bestenfalls nur mich selbst glücklich. Und eigentlich nicht mal das. Deshalb: Mehr haben zu wollen, macht nicht glücklich. Sondern zu teilen.
Das macht Yehuda Teichtal, wenn es ihm nicht gut geht
Ihr Enthusiasmus ist ansteckend. Erleben auch Sie trotzdem Momente des Pessimismus, der Depression?
Jeder Mensch erlebt im Leben eine Achterbahn. Manchmal geht es uns besser, manchmal schlechter. Aber ich glaube und versuche weiterzugeben, dass ein Rückschritt nur ein Anlauf für einen weiteren, besseren Sprung ist.
Und welche Methode nutzen Sie in einem Moment der Not?
Wenn es mir sehr schlecht geht, bete ich. Ich denke an die Worte von Rebbe Menachem Mendel Schneerson: Es gibt nur Gutes von Gott. Deshalb versuche ich, schwierige Situationen zu nutzen, um das Gute mit Anlauf zu verstärken.
Das klingt recht allgemein.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Einmal ging ich mit meinem Sohn, der gerade eingeschult worden war, an einem Freitagabend nach Hause. Plötzlich wurden wir angegriffen, angeschrien und bespuckt. Der Fall wurde sehr bekannt, auch der Bundespräsident besuchte mich zu Hause. Danach haben wir eine Initiative für mehr Toleranz ins Leben gerufen. So wurde aus dem fürchterlichen Angriff etwas Gutes.
Jeder Mensch erlebt Schlimmes und Herausforderungen. Aber es ist wie in einem Lied von Leonard Cohen: There’s a crack in everything. That’s how the light gets in (Durch die Risse kommt das Licht herein). In der Imperfektion, in der Herausforderung, scheint ein neuer Horizont auf. Manchmal stellt uns Gott in diese Herausforderung, damit wir mehr Kraft sammeln.
Vermissen Sie manchmal New York City?
Statt zu vermissen, möchte ich lieber gestalten. Also würde ich, wenn überhaupt, eher sagen: Lasst uns das Positive von New York City auch in unser Leben hierherholen. Wir sollten positiv denken, also lieber unsere Umgebung gestalten, als etwas anderes zu vermissen.
Das sagt Yehuda Teichtal der nächsten Generation
Gab es trotzdem Zeiten in Ihrem Leben, in denen Sie an Ihrer religiösen Berufung gezweifelt haben?
Ich betrachte mein Leben nicht als religiöse Berufung, sondern als Lebensaufgabe. Ich will nicht Gott von der Welt trennen, sondern den Himmel auf die Erde bringen. Auch wenn meine Aufgabe mit vielen Herausforderungen konfrontiert ist. Ein Beispiel: Wir haben hier in unserer Gemeinde den größten jüdischen Bildungscampus Deutschlands, einen der größten in Europa, gebaut. Dann wurde durch die Corona-Pandemie, Lieferengpässe und den Ukraine-Krieg alles schwieriger und vor allem teurer. Aber wir haben auch diese Herausforderungen irgendwie gemeistert.
Auch wenn ich mich wiederhole: Unsere Aufgabe ist es, Licht zu sein. Und ich meine das gar nicht nur religiös, sondern gesellschaftlich. Meine Oma hat mir gesagt: Die Dunkelheit bekommst du nicht mit einem Besen weg, sondern mit Licht. Schon ein wenig Licht kann die Dunkelheit vertreiben. Deswegen will ich mich nicht mit der Dunkelheit beschäftigen, sondern mit dem Licht.
Welche Botschaft richten Sie an die nächste Generation?
Be a leader. Übernimm Verantwortung, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Es kommt auf jede und jeden einzelnen an, in der Familie, im Freundeskreis, in der Nachbarschaft, mit Taten die Liebe zu stärken und Menschen zu helfen.