Sie gilt als Meilenstein in den Beziehungen der katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, als „kopernikanische Wende“ wird sie sogar bezeichnet: die Erklärung „Nostra Aetate“, die erstmals offiziell Judentum und Islam positiv würdigt und am 28. Oktober 1965 vom Zweiten Vatikanischen Konzil verabschiedet wurde (siehe Info 1). Einen Tag nach dem 60. Jahrestag dieses historischen Ereignisses treffen sich der Präsident der Konferenz der Europäischen Rabbiner und Karlspreisträger von 2024, Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt, der Münchener Erzbischof Kardinal Reinhard Marx sowie der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster, Professor Mouhanad Khorchide, zum Interreligiösen Dialog in Aachen (siehe Info 2). Was ist Ziel dieses Interreligiösen Dialogs, was belastet ihn immer, und was kann er erreichen – nicht zuletzt mit Blick auf den grausamen Konflikt im Nahen Osten? Mouhanad Khorchide beantwortet dazu die Fragen von Peter Pappert.
Professor Khorchide, was erwarten Sie von dem Gespräch mit Kardinal Marx und Oberrabbiner Goldschmidt in Aachen?
Mouhanad Khorchide: In erster Linie ein starkes Signal, dass in unserer konfliktreichen Welt Religionen Teil der Lösung sein können und nicht immer nur Teil des Problems sind, wie es oft heißt. Islam und Christentum berufen sich auf Heilige Schriften, die nicht immer im Sinne der Menschenfreundlichkeit ausgelegt worden sind. Umso wichtiger ist es, wenn wir gemeinsam mit Kardinal Marx, der als starke Stimme in Deutschland gehört wird, unsere Schriften im Sinne des Friedens und der Gemeinsamkeit deuten. Wir wollen wachrütteln.
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Beim Blick auf weltweite Konflikte oder auch auf die Innenpolitik in Russland und den USA hat man nicht gerade den Eindruck, Religionen seien Teil der Lösung. Sie erscheinen oft genug als Verursacher von Krisen, Kriegen und Auseinandersetzungen.
Khorchide: Beides ist richtig. Schauen wir auf den Islam: Die Hamas will Judenhass und Vernichtung von Menschen jüdischen Glaubens mit dem Islam legitimieren und legt den Koran menschenfeindlich aus. Marokko hingegen schließt im Namen des Islams Frieden mit Israel.
Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 sind Juden in Deutschland von wachsendem Antisemitismus bedroht. Kann Interreligiöser Dialog dagegen konkret irgendetwas tun?
Khorchide: Definitiv, indem wir gemeinsam in unseren Schriften antijüdische Passagen oder Auslegungen überwinden und in unseren Traditionen nach projüdischen Erzählungen suchen.
In welchem Maße ist der israelisch-palästinensische Konflikt ein religiöser Konflikt?
Khorchide: In erster Linie ist es ein politischer Konflikt um Land. Aber wie so oft wird Religion leider politisch instrumentalisiert. Da beruft sich die Hamas auf die Religion, wie es manche ultraorthodoxen Juden auch tun.
„Nostra Aetate“
Die Erklärung „Nostra Aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils ist ein in der gesamten Kirchengeschichte beispielloses Dokument, in dem sich die katholische Kirche erstmals offiziell von Antijudaismus und Antisemitismus distanziert und sich zu ihren jüdischen Wurzeln bekennt. Die katholische Kirche nahm damit, so der verstorbene Mainzer Kardinal Karl Lehmann (1936-2018), „eine fast totale Kehrtwendung im Blick auf ihre bisherigen Äußerungen“ vor.
Christen, Juden und Muslime werden in „Nostra Aetate“ aufgerufen, Missverständnisse im Dialog auszuräumen. „Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist“, heißt es in der Erklärung, die für Mouhanad Khorchide größte Bedeutung hat. „Mit ‚Nostra Aetate‘ hat die katholische Kirche zum ersten Mal ihren Absolutheitsanspruch abgelegt, wie ihn die islamische Theologie nach wie vor erhebt. Der Islam wird gewürdigt und den Muslimen zugestanden, dass sie an den einen Gott glauben und Platz bei Gott im Himmel haben“, sagt Khorchide. „Nostra Aetate“ sei „die theologische Grundlage für einen aufrichtigen Dialog. Selbstkritisch muss ich sagen, dass der Islam einen solchen Schritt erst noch gehen muss.“
Die Kirche verurteilt in „Nostra Aetate“ die grauenvollen Verbrechen am jüdischen Volk und ihre eigenen jahrhundertelangen, folgenschweren Fehler: den Vorwurf des Gottesmordes, die Behauptung von der göttlichen Verwerfung des erwählten jüdischen Volkes und die unchristliche Legitimation des Judenhasses. (pep)
Kardinal Marx hat nach dem 7. Oktober 2023 sehr deutlich einflussreiche islamische Geistliche kritisiert, die den Terror der Hamas rechtfertigen. Haben Sie irgendeine Erklärung dafür, dass hohe muslimische Würdenträger – sei es im Iran, in Ägypten oder anderswo – Terroristen wie Hamas oder Hisbollah unterstützen?
Khorchide: Manche unterstützen die Hamas aus Überzeugung wie jene im Iran. Ägyptische Gelehrte tun das nicht, kritisieren die Hamas aber auch nicht. Die antiisraelische Haltung, die weitgehend zu einer antijüdischen Haltung geworden ist, gehört seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 zur arabischen Identität. Das gilt auch für christliche Araber. Angriffe auf Juden und Israel werden akzeptiert. Viele Geistliche in Ägypten befinden sich tatsächlich in einem Dilemma; sie haben Angst um ihre Machtstellung und Legitimation und kritisieren die Hamas deshalb nicht.
Starke Stimme der deutschen Katholiken: Kardinal Reinhard Marx. Foto: Deutsche Bischofskonferenz
Ist mit Religionsvertretern, die den Massenmord der Hamas in Israel rechtfertigen, Dialog möglich?
Khorchide: Man muss immer auf Dialog setzen. Wie will man solche Leute denn sonst dazu bewegen, ihre eigenen Positionen kritisch zu hinterfragen.
Können Sie einschätzen, wie stark unter Muslimen in Deutschland die Sympathie für die Hamas-Terroristen ist?
Khorchide: Unter arabischstämmigen Muslimen gibt es viel Sympathie mit der Hamas wegen des gemeinsamen Feindes Israel. Unter Muslimen, die aus Syrien, dem Libanon oder Jordanien nach Deutschland kommen, stößt man oft auf eine antiisraelische Haltung. Das ist bei Muslimen zum Beispiel aus Indonesien ganz anders.
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Aber viele arabische Staaten im Nahen Osten befürworten die Entwaffnung der Hamas.
Khorchide: Ja, das ist eine jüngere Entwicklung. Die Golfstaaten, Ägypten und Jordanien lehnen den politischen Islam ab und wollen endlich Frieden mit Israel. Deren Politiker haben keine Sympathie für die Hamas; bei den Menschen auf der Straße in diesen Ländern sieht das allerdings anders aus.
Dialog im Krönungssaal
Die Stiftung Internationaler Karlspreis zu Aachen und die Europäische Stiftung Aachener Dom sowie die Stadt Aachen laden ein zu einem Gespräch mit Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt (Präsident der Konferenz der Europäischen Rabbiner und Karlspreisträger 2024), dem Münchener Kardinal Reinhard Marx und Mouhanad Khorchide (Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Universität Münster). Die Veranstaltung findet statt am kommenden Mittwoch, 29. Oktober, im Krönungssaal des Aachener Rathauses. Beginn: 19 Uhr (Einlass ab 18:15 Uhr). Der Eintritt ist frei.
Zurück zum Interreligiösen Dialog: Was sind konkret dessen Sinn und Ziel? Merkt jemand in seinem Alltag hierzulande etwas von den Früchten des Interreligiösen Dialogs? Muss man Theologe sein, um das zu erkennen?
Khorchide: Nein – überhaupt nicht. Der Interreligiöse Dialog schafft im Alltag tatsächlich Räume der Begegnung. In der Jugendarbeit wirken oft Kirchen und Moscheegemeinden zusammen; junge Leute beider Religionen kommen zum Beispiel beim Sport zusammen, sprechen miteinander und gehen respektvoll miteinander um.
Die Partner im Interreligiösen Dialog versichern sich gegenseitig ihres Respekts, ihres Friedenswillens, ihrer Menschenfreundlichkeit. Wird da bei aller Freundlichkeit auch darüber gesprochen, was gegenseitig nicht zu akzeptieren ist?
Khorchide: Je offizieller die Kontakte und Treffen sind, desto oberflächlicher werden sie. Da will man sich staatsmännisch möglichst korrekt verhalten. Das gilt zum Beispiel für das „Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt“, das Papst Franziskus und der Kairoer Großimam Ahmad Mohammad Al-Tayyeb 2019 in Abu Dhabi unterschrieben. Das ist ein wunderbares Papier, das aber den Eindruck vermittelt, beide reden alles schön. Die problematischen Themen werden ausgespart. Wenn die nicht angesprochen werden, bleibt es bei Symbolik. Das ist kein tiefer Dialog, in dem man den Partner kritisch herausfordert, ohne ihn zu entwürdigen.
Karlspreisträger des Jahres 2024 und Präsident der europäischen Rabbiner: Pinchas Goldschmidt. Foto: Andreas Steindl
Welches sind die problematischen Themen?
Khorchide: In vielen islamischen Ländern ist es verboten, Kirchen zu bauen. Muslimische Frauen dürfen keinen Christen heiraten. Vor allem ist es der religiöse Exklusivismus im Islam, wonach nur er die einzige wahre Religion ist und alle anderen an den falschen Gott glauben. In der Konsequenz dessen gibt es in vielen islamischen Ländern keine Religionsfreiheit, keinen Religionsunterricht und keine Kirchen für Christen. Darüber müssen wir reden.
Und dabei sind die Kirchen für Sie ein angenehmer Partner?
Khorchide: Die christlichen Kirchen haben die Aufklärung zum großen Teil hinter sich. In der katholischen Kirche gibt es auch kritische Punkte wie den Zölibat oder die Stellung der Frau in der Kirche. Aber sie ist in den meisten Fragen viel offener als konservative muslimische Gemeinden. In den christlichen Kirchen ist man sich einig, dass die Bibel historisch-kritisch gelesen wird und deren Gewalt-Stellen im historischen Kontext zu verorten sind. Der Koran wird von Muslimen zumeist nicht historisch-kritisch gelesen.
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Bei Konflikten hierzulande oder auch in Frankreich gewinnt man den Eindruck, dass Muslime sich in ihrem Glauben viel schneller beleidigt fühlen als Christen und Juden. Ist das so?
Khorchide: Ja, das lässt sich oft beobachten. Wer sich seiner Sache sicher ist, braucht aber keine Angst zu haben vor Kritik. Die Muslime sind in Europa allerdings in der Minderheit, verfügen häufig nicht über eine gefestigte religiöse Identität und fühlen sich bei Kritik emotional beleidigt.
Was sagen Sie Muslimen, die die Freiheit der Presse, der Satire, der Kunst infrage stellen oder gar nicht achten?
Khorchide: Man muss ihnen den Spiegel vorhalten: Ohne diese Freiheiten hätten sie auch nicht die Freiheit, ihre eigene Religion zu praktizieren und in die Moschee zu gehen. Das ist eben anders als in den meisten islamischen Ländern, wo Zensur und staatlicher Zwang herrschen. Viele Muslime in arabischen Ländern vermissen Freiheit. Auch deshalb müssen wir sie hierzulande beschützen.
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Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Ditib) organisiert die meisten Gemeinden in Deutschland und steht für einen importierten Islam. Demgegenüber bemühen Sie sich, Professor Khorchide, einen liberalen deutschen oder europäischen Islam zu etablieren, was aus den eigenen Reihen diskreditiert und torpediert wird. Können, werden Sie erfolgreich sein?
Khorchide: Ich bin sehr optimistisch, dass gerade junge Menschen, die hier geboren und aufgewachsen sind, deutsch und muslimisch sein wollen. Das merke ich bei meiner Arbeit seit vielen Jahren. Sie wollen einen Islam im Sinne von Freiheit und Gleichberechtigung. Sie suchen Zugang zu einer Religion der Barmherzigkeit – ohne einen Angst machenden Gott.
Wann wird eine religiöse Haltung oder Überzeugung fundamentalistisch?
Khorchide: Ab dem Punkt, da man andere ausschließt und entwertet – wegen ihrer Religion, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung.
Gibt es in allen drei monotheistischen Religionen Fundamentalisten?
Khorchide: Ja. Das ist ursprünglich ein christlicher Begriff; so wurden die Evangelikalen in den USA bezeichnet. Die nehmen bis heute die Bibel wörtlich und handeln entsprechend. Da werden sogar Ärzte umgebracht, die Abtreibungen vornehmen. Auch im Judentum gibt es orthodoxe Fundamentalisten, die Religion politisch instrumentalisieren.