Eingehüllt in eine dicke Jacke entschied sich Klara Bühl dazu, etwas zu tun, was sie den ganzen Abend noch nicht getan hatte: Sie versteckte sich. Giulia Gwinn stand wenige Schritte entfernt im Scheinwerferlicht an den Mikrofonen. Und während die Kapitänin des deutschen Nationalteams Antworten auf die Fragen zu diesem 1:0 (0:0) gegen Frankreich gab, wartete die Torschützin im Dunkeln hinter einer Stellwand, blickte auf den Boden und lächelte. Vielleicht waren es die eloquenten Antworten Gwinns, die sie erfreuten. Vielleicht gingen Bühl aber auch gute Szenen aus dem gerade beendeten Spiel durch den Kopf, für sie ein „Wahnsinns-Fußballabend“.

Dieses Lächeln verschwand auch nicht, als Gwinn sich verabschiedet hatte und Bühl aus dem Schatten hervortrat. Es war Ausdruck großer Zufriedenheit mit der eigenen und der kollektiven Leistung, weil der Plan für diesen ersten Auftritt nach der Europameisterschaft in der Schweiz aufgegangen war. Auch dank eines taktischen Kniffs, der zumindest in dieser Konstellation eine jener Schwachstellen beseitigte, die Bundestrainer Christian Wück mit seinem Team bei der Turnieranalyse ausgemacht hatte: die Zehnerposition. Für das Halbfinal-Hinspiel der Nations League hatte sich Wück eine Lösung überlegt. Sie brachte eine Rotation mit sich, bei der manch eine Spielerin überhaupt das erste Mal fürs Nationalteam auflief und manch andere sich in einem ungewohnten Revier wiederfand.

Halbfinale der Nations League

:Klara Bühl sorgt für glänzende Aussichten

Im Halbfinal-Hinspiel der Nations League gewinnt das deutsche Nationalteam 1:0 gegen Frankreich. Als die Kräfte schwinden, zieht Klara Bühl aus 18 Metern entscheidend ab.

„So eine Überraschung kann vielleicht auch mal was beim Gegner bewirken. Dass es so, so gut funktioniert, wusste keiner von uns davor“, sagte Bühl und strahlte. „Aber es ist natürlich super, super schön, wenn du so flexible Spieler hast, die du so einsetzen kannst und das Spielsystem immer noch genauso funktioniert, die Automatismen laufen.“ Im Fußballjargon listete die 24-Jährige auf, was genau alles funktioniert hatte: gut nach vorne gespielt, klar in den Basics, eine saubere technische Ausführung, Vororientierung in der Positionierung, einige Großchancen. Und tatsächlich hatte sich keine Unsicherheit breit gemacht, sondern die Umstellung befreiend gewirkt. Das Zusammenspiel der Deutschen lief viel flüssiger und fußballerisch besser als während der EM. „Heute“, sagte Bühl, „hat man gesehen, was wir alles drauf haben, was für einen Fußball wir spielen wollen.“

„Jule macht auf dem Platz Dinge, die sie halt machen möchte, die nicht abgesprochen sind“, sagt Bundestrainer Wück über seine neu entdeckte Zehn

Mutigen Offensivfußball wollten die Deutschen auch im Sommer zeigen. Aber nicht zuletzt, weil sie von Verletzungen und roten Karten immer wieder zum Improvisieren gezwungen wurden, haperte es an der Umsetzung. Es offenbarte sich eine Lücke zwischen Realität und Anspruch – spielerisch gerade im Kontrast zu Weltmeister Spanien im Halbfinale. Improvisieren musste der Bundestrainer wegen einer hohen Zahl von Verletzten, darunter Lena Oberdorf, Giovanna Hoffmann und Stammkeeperin Ann-Katrin Berger, sowie einer Gelb-Sperre von Vize-Kapitänin Janina Minge auch in Düsseldorf beim Wiedersehen mit EM-Viertelfinalgegner Frankreich. Aber eine veränderte Herangehensweise hatte Wück sich ja ohnehin vorgenommen, ausgehend von der besagten Problematik mit der Zehn, von der im ganzen Turnier kein Pass zu einem Torschuss geführt hatte.

Statt ohne Zehn in einem neuen System wollte es der Bundestrainer lieber erst mal weiterhin im 4-2-3-1 mit einer neuen Zehn probieren, anders interpretiert. Dass die Entscheidung auf Jule Brand fiel, die in ihrer Karriere bis dahin zumindest von keiner Statistik auf dieser Position erfasst worden war, wollte er nicht als Entscheidung gegen Linda Dallmann oder Laura Freigang verstanden wissen. „Sondern wir wollten von der Spielmacher-Überlegung ein bisschen weg. Und da wir eben eine Spielerin haben, die einen unheimlichen Zug zum Tor mit Ball hat, ist die Entscheidung auf Jule gefallen“, sagte Wück zum „Experiment“ mit seiner nominellen Flügelspielerin. Die künftige Dauerlösung sei das deshalb nicht, aber eben eine wichtige, weitere Option: „Jule macht auf dem Platz Dinge, die sie halt machen möchte, die nicht abgesprochen sind. Und sie ist eine, die von außen immer gerne nach innen zieht – und da haben wir uns überlegt, okay, dann können wir sie gleich auf die Mitte stellen.“

Die 1,84 Meter große Camilla Küver (Mitte) hätte wohl schon früher ihr Debüt im Nationalteam gegeben, hätten sie nicht diverse Verletzungen gebremst.Die 1,84 Meter große Camilla Küver (Mitte) hätte wohl schon früher ihr Debüt im Nationalteam gegeben, hätten sie nicht diverse Verletzungen gebremst. (Foto: Leon Kuegeler/Reuters)

Die nötige Spielintelligenz, Technik und Geschwindigkeit bringt Brand mit. Der Wechsel funktionierte auch deshalb reibungslos, weil ihre Vertretung auf der rechten Außenbahn keine Probleme hatte. Carlotta Wamser war während der EM positiv aufgefallen, als sie für die verletzte Gwinn einsprang, nun ackerte die 21-Jährige eben eine Stelle weiter vorn, während die Kapitänin wieder waltete. Die Abstimmung funktionierte über weite Teile der Partie, als hätten die Deutschen nie anders gespielt. Auch über die linke Seite mit Bühl und Franziska Kett als überzeugende Außenverteidigerin, die wieder symbolhaft für die Integration von Talenten unter Wück stand. Wie auch Camilla Küver, 22, vom VfL Wolfsburg, die nach einer Verletzungsphase abgeklärt und athletisch ihr Debüt als Innenverteidigerin gab. Noch so eine wichtige weitere Option.

Weil es so schön flüssig lief, spielten die Deutschen sich diverse Chancen und Großchancen heraus. Aber trotz all der unterschiedlichen Schritte nach vorne, hüpften sie an diesem Punkt dann doch wieder gehörig auf der Stelle. Was von den Französinnen beinahe bestraft worden wäre, dank Abseitsstellungen, Torhüterin Stina Johannes und eines Klara-Bühl-Moments in der 79. Minute jedoch ohne Folgen blieb. „Das einzige Manko, allerdings ist das leider ein großes Manko, war die Effizienz“, kritisierte Wück. „Wir müssen weiter fokussiert versuchen, unsere Torchancen nicht mit aller Wucht reinzumachen, sondern sehr präzise. Ich glaube, das ist ein Thema, an dem werden wir nicht nur die nächsten Monate, sondern vielleicht bis zur Weltmeisterschaft arbeiten müssen.“ Die findet 2027 in Brasilien statt.

Wie verankert die Erkenntnisse der EM-Analyse und Handlungsanweisungen tatsächlich sind, wird sich am Dienstag zeigen, beim Halbfinal-Rückspiel im nordfranzösischen Caen (21.10 Uhr, ZDF). Ein Sieg würde das Finale der Nations League Ende November gegen Spanien oder Schweden und damit den ersten Titel seit dem Olympiagold 2016 greifbarer machen. Und das Nationalteam reist, abgesehen vom Hinspiel-Sieg, mit einem großen Trumpf an: Im dramatischen EM-Viertelfinale waren die Deutschen, ab der 13. Minute in Unterzahl, bis zum Elfmeterschießen als Mentalitätsmonster aufgetreten. Nun kommt das Selbstbewusstsein der größeren spielerischen Souveränität dazu – und die Gewissheit, dass noch viel mehr drin gewesen wäre.