Der Jungftak muss ein schräger Vogel gewesen sein. In „Webster’s Universal Dictionary of the English Language“ von 1937 wird er folgendermaßen beschrieben: jungftak (jŭngf′ täk), n. ein sagenumwobener persischer Vogel, das Männchen hatte nur einen Flügel auf der rechten Seite, das Weibchen nur einen Flügel auf der linken Seite; statt des fehlenden Flügels hatte das Männchen einen Knochenhaken und das Weibchen eine Knochenöse, und durch die Verbindung von Haken und Öse konnten sie fliegen – jeder für sich musste auf dem Boden bleiben. Nur wenn sich beide Tiere zusammentaten, kamen sie also vorwärts. Was für eine rührende Geschichte.
Zu schön, um wahr zu sein? Tatsächlich handelt es sich beim Jungftak um einen sogenannten Nihileintrag, einen gefälschten Lexikonartikel. Fake News mögen im Zeitalter von Social Media ungeahnte Verbreitung finden. Doch es gibt sie auch schon lange genau da, wo man sie nicht vermuten würde: in Lexika und Nachschlagewerken. Manche Wissenschaftler*innen machen sich einen Spaß daraus, erfundene Dinge oder fingierte Biografien einzufügen. Nihileinträge haben jedoch auch einen ernsten Hintergrund: Sie dienten als Kopierschutz. Anhand der ausgedachten Artikel ließ sich leicht nachweisen, wenn jemand abgeschrieben hatte.
Wenn aber selbst Lexika, diese Sammlungen vermeintlich verlässlicher Informationen, fingierte Einträge enthalten, woher soll man noch wissen, was wahr ist und was falsch? Mit dieser Frage spielt die polnische Fotografin und Künstlerin Weronika Gęsicka in ihrer aktuellen Arbeit „Encyclopaedia“. Als sie das erste Mal von ausgedachten Einträgen in Lexika hörte, war sie sofort fasziniert. Zwei Jahre recherchierte sie zu der Thematik, las wissenschaftliche Artikel, stieß auf gefälschte Begrifflichkeiten, teils mit Abbildungen. Bei Online-Auktionen versuchte sie, Werke mit Nihilartikeln zu ersteigern. „Das war nicht leicht, weil manche Einträge nur in einer bestimmten Ausgabe eines bestimmten Jahres erschienen sind.“
Ab 2022 begann Gęsicka, die fingierten Artikel zu illustrieren. Als visuelle Künstlerin arbeitet sie viel mit Fotos aus Datenbanken und fertigt daraus Collagen. So entstand auch das Bild zu „Bessa Vugo“, einer Biologin, die in einer Online-Enzyklopädie aufgeführt ist, obwohl es sie laut Gęsicka nie gegeben hat. Bessa Vugo war dem Eintrag zufolge auch eine Theoretikerin der fünf Sinne, die mit Essen in verschiedenen geometrischen Formen experimentierte. Ob Kinder bei pyramidenartigen Zitronen eher auf den Geschmack kommen?

Near Dark, ein unvollendeter amerikanischer Vampir-Horrorfilm unter der Regie von Ryan Zeller und nach dem Drehbuch von Matt Craven und Kathryn Bigelow. Es handelt sich um ein Remake des Kult-Vampir-Western-Horrorfilms von 1987 unter der Regie von Kathryn Bigelow
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Weronika Gęsicka

Apopudobalia, antike Sportart, wohl eine frühe Form des neuzeitlichen Fußballspiels; Einzelheiten sind nicht bekannt. In der späthellenistischen Zeit hat der Sport offenbar auch Rom erreicht. Im 1./2. Jahrhundert n. Chr. wurde Apopudobalia durch römische Legionen bis nach Britannien getragen, von wo sie sich im 19. Jahrhundert erneut ausbreitete
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Weronika Gęsicka
Weronika Gęsicka stieß beim Collagieren bald an Grenzen. Besonders für die Lexikoneinträge vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts habe ihr passendes Archivmaterial gefehlt, erzählt sie. Gęsicka beschloss kurzerhand, mithilfe von künstlicher Intelligenz ihr eigenes „Archivmaterial“ zu erstellen. Inhaltlich ist das konsequent: Sie übertrug das Konzept der Fakes auf die bildliche Ebene und verwischte weiter, was wahr ist und was falsch.
Mithilfe von künstlicher Intelligenz fand auch der Jungftak 2023 zu seiner Form, und das gleich in neunfacher Ausführung. Die Bildgeneratoren steckten zu der Zeit allerdings noch in den Kinderschuhen, sagt Gęsicka. Das sehe man den Bildern an. „Die KI war noch nicht in der Lage, mit abstrakten Konzepten umzugehen.“
Heute sind gefälschte Bilder auf den ersten Blick nur mehr schwer von echten zu unterscheiden – was Fake News auf Social Media noch mehr Macht verleiht. Desinformation wird genutzt, um Menschen zu verunsichern und Gesellschaften zu destabilisieren. Gęsickas Arbeit wirkt im Vergleich dazu erfreulich harmlos. Im wörtlichen Sinne: Ihre Bilder tun niemandem weh. Im Gegenteil, ihre Fakes sind nicht bedrohlich, sondern heiter. Sie muten teils historisch an, ihre Botschaft aber ist hochaktuell. Man sollte dem, was man vor Augen hat, nicht trauen. Zweifel sind angebracht.

Chaozhouxieye, eine chinesische Marke für Freizeitkleidung, bekannt für ihre offenen Hausschuhe aus Kunststoff oder Flipflops. Die Marke hat aufgrund ihres ungewöhnlichen Namens und der Schwierigkeit von englischsprachigen Menschen, ihn auszusprechen, Kultstatus erlangt
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jungftak, ein sagenumwobener persischer Vogel, das Männchen hatte nur einen Flügel auf der rechten Seite, das Weibchen nur einen Flügel auf der linken Seite; statt des fehlenden Flügels hatte das Männchen einen Knochenhaken und das Weibchen eine Knochenöse, und durch die Verbindung von Haken und Öse konnten sie fliegen
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Steinlaus, einheimisches Nagetier aus der Familie der Lapivora (Erstbeschreibung 1983)
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Weronika Gęsicka
Etwa an Loriots berühmter Steinlaus. Das fantastische Tier tauchte erstmals in einem von Loriots Sketchen in den 70er Jahren auf, es fand dann seinen Weg in das medizinische Wörterbuch Pschyrembel. Dort steht: Kleinstes einheimisches Nagetier mit einer Größe von 0,3–3 mm aus der Familie der Lapivora (Erstbeschreibung 1983). Bei der Steinlaus handelt es sich um einen ubiquitär vorkommenden [also sehr verbreiteten], in der Regel apathogenen [nicht krankmachenden] und stimmungsaufhellenden Endoparasiten.
Sie machen eben gute Laune, diese Steinläuse. Weronika Gęsicka orientierte sich an den Zeichnungen des Tieres. Mithilfe von Fotos und KI generierte sie dann ihre eigene Laus, die auf einem ausgestreckten Zeigefinger sitzt.
Lügen haben kurze Beine, heißt es. Dafür hat es die Steinlaus in all den Jahren ziemlich weit gebracht.
Weronika Gęsicka, geboren 1984, ist Fotografin und visuelle Künstlerin. Mit ihrer Arbeit „Encyclopaedia“ wurde Gęsicka gerade für den Deutsche Börse Photography Foundation Prize 2026 nominiert. Das Fotobuch wurde 2024 verlegt von Blow Up Press und Jednostka Gallery.