Der amerikanische Braindrain könnte zur Chance für Europa werden, auch für die Hochschulen hierzulande. Trotzdem bleiben die meisten von ihnen seltsam still.

Illustration Ida Götz / NZZ

Es war im März, als unverhofft zwei Nobelpreisträger bei der Universität Zürich anklopften. Florian Scheuer, der Vorsteher des Instituts für Volkswirtschaftslehre, weilte für einen Vortrag in Boston am Massachusetts Institute of Technology (MIT), als ihm Esther Duflo und Abhijit Banerjee in ihrem Büro eine einfache Frage stellten: ob es eine Möglichkeit gebe, nach Zürich zu wechseln. Sie hatten gerade mehrere Briefe der Regierung Trump bekommen, die die Finanzierung von Projekten ihres globalen Forschungszentrums für die Bekämpfung der Armut aufkündigten.

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Scheuer, der selbst am MIT doktoriert hat und Bescheid weiss über die Gepflogenheiten globaler Spitzenunis, zögerte nicht. Er kennt Duflo und Banerjee schon lange, die beiden haben die Entwicklungsökonomie revolutioniert mit ihrem Anspruch, anhand naturwissenschaftlicher Methoden zu messen, welche Ansätze funktionieren – und welche nicht. Da er keine freien Stellen hatte, wandte er sich an die Excellence Foundation, die unter der Leitung seines einflussreichen Kollegen Ernst Fehr die Wirtschaftsfakultät jeweils unterstützt beim Anzapfen neuer Finanzquellen. Zufällig versuchte diese gerade die Stiftung des brasilianisch-schweizerischen Milliardärs Jorge Paulo Lemann zu überzeugen, sich erstmals an einer Schweizer Universität für ein Bildungsprojekt zu engagieren – sie hatte bisher eher Austauschprogramme zwischen Brasilien und amerikanischen Hochschulen unterstützt.

So kam das eine zum andern: Man sah die Synergie zwischen Bildungsprogrammen und der Entwicklungsökonomie, das gemeinsame Interesse für Brasilien – innert weniger Monate schaffte man, was sonst mindestens ein Jahr dauert: ein neues Forschungszentrum für Entwicklungsökonomie, Bildung und Politikgestaltung zu gründen, alimentiert mit 26 Millionen Franken der Lemann Foundation, die die Löhne von Duflo und Banerjee langfristig sichern sowie Stipendien für Masterstudierende finanzieren. «Es musste schnell gehen, denn es war klar, dass das Zeitfenster, um solche Top-Shots nach Zürich zu bringen, wegen der möglichen Konkurrenz klein ist», sagt Scheuer.

Präzise Entwicklungszusammenarbeit: Esther Duflo erklärt ihre Methoden, nachdem sie zusammen mit Abhijit Banerjee 2019 den Nobelpreis erhalten hat.

«Danke, Donald!», dürfte sich die Uni Zürich im Nachhinein sagen. Denn auch wenn sich Duflo und Banerjee selber nicht äussern, ist völlig klar: Ohne Trumps Kahlschlag bei den Fördermitteln wäre es nie zu ihrem Wechsel gekommen. «An den besten Hochschulen der Ivy League Leute zu rekrutieren, war bisher schwierig», sagt Scheuer. Das habe sich eindeutig geändert: «Das Interesse, zu uns zu kommen, ist viel grösser geworden.»

Ein Artikel der «NZZ am Sonntag»

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Die Ausgabe vom 26. Oktober

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Der Umzug der Nobelpreisträger, die auch privat ein Paar sind, auf den nächsten Sommer ist eines der prominenteren Beispiele für eine Entwicklung, die die internationale Wissenschaft fundamental verändern könnte. Bisher war die Dominanz der USA unangefochten und der Kampf um Talente einseitig. Rund 900 Milliarden Dollar gaben die Amerikaner für Forschung und Entwicklung jährlich aus, fast 200 Milliarden davon aus staatlichen Mitteln. Als Vergleich: In Europa waren es 450 Milliarden, in der Schweiz 20 Milliarden.

Doch nun versucht Trump nicht nur politisch unliebsame Entwicklungen an den Unis zu bekämpfen, sondern streicht im Rasenmäherstil staatliche Gelder, die für Forschungszwecke auch an die vorwiegend privat finanzierten Spitzenuniversitäten fliessen. Und während alle über die Einschränkungen bei der Diversitäts- oder Klimaforschung sprechen, ergibt eine Auswertung des Center for American Progress, dass alle möglichen Gebiete betroffen sind: von einem Forschungsprojekt für die Rinderzucht über die HIV-Prävention bis zu neuen Ansätzen für Therapien nach Schlaganfällen. Die Administration hat 4000 Projekte von 600 Universitäten ins Visier genommen. «Die vorgesehenen Kürzungen betreffen alle, auch die Naturwissenschaften», sagt Greta Bedekovics von der linksliberalen Denkfabrik.

Die Folge sind grossflächige Budgetkürzungen, ein Abbau von Forschungsstellen und eine einzigartige Verunsicherung der Wissenschaftsgemeinde – und zwar nicht nur an den bekannten Schulen wie Harvard oder Columbia, die in den Schlagzeilen stehen. Die Lage ist so unübersichtlich, dass im Frühling in einer Befragung der Zeitschrift «Nature» 75 Prozent der Forscher angaben, eine Stelle ausserhalb der USA zu suchen. In einer Auswertung des «Economist» zeigte sich, dass in den USA tätige Naturwissenschafter plötzlich viel häufiger Job-Inserate aus Europa und Kanada anklickten. Und in der Einwanderungsstatistik vom August ging die Zahl der internationalen Studierenden, die ins Land reisten, im Vergleich zum Vorjahr um fast 20 Prozent zurück. Besonders gross war der Rückgang bei den Indern. «Auch wenn man nicht selbst von Kürzungen betroffen war, hatte man als Ausländer, auch wegen der Immigrationsrestriktionen, manchmal ein mulmiges Gefühl», so fasst Thomas Graeber die Stimmungslage zusammen.

Der 35-jährige Ökonom, der aus Deutschland stammt, hat diesen Sommer nach fünf Jahren an der Harvard Business School an die Uni Zürich gewechselt. Und obwohl sein Entscheid schon vor Trumps Wiederwahl feststand, ist er heute auch etwas erleichtert. «Es ist eine Riesenchance für europäische Universitäten, vor allem für Schweizer Hochschulen, die am ehesten konkurrenzfähige Forschungskonditionen bieten können», sagt Graeber.

Andere sehen es noch viel euphorischer. Die Rede ist etwa von einer Umkehrung des Braindrains, wie der jahrzehntelange Exodus europäischer Forscher in die USA genannt wurde. «Wir sehen, dass sich mehrere Leute vom Kaliber Duflos und Banerjees melden. Auch ich habe solche Anrufe und E-Mails bekommen», sagt etwa Patrick Aebischer, der frühere Präsident der EPFL in Lausanne. Es gehe dabei nicht nur darum, Stars nach Europa zu holen, sondern auch darum, auszunutzen, dass Doktoranden und Postdoc-Forscher aus der ganzen Welt erstmals zögerten, in die USA zu gehen. «Das ist ein riesiges Zukunftspotenzial.»

Auch Thomas Zurbuchen, früher Wissenschaftsdirektor der US-Raumfahrtsbehörde Nasa und heute Professor am Departement Erd- und Planetenwissenschaften an der ETH, spürt in seinem Netzwerk das steigende Interesse aus Amerika an Jobs in Europa beziehungsweise in der Schweiz: «Insbesondere von europäischen Forschern, die einst in die USA zogen und sich plötzlich eine Rückkehr vorstellen können», sagt er. Der Kandidatenpool werde grösser, und man verliere auch nicht mehr automatisch die allerbesten Postdoktoranden an die amerikanischen Top-Unis. Er sagt: «In meiner Karriere habe ich kaum eine grössere Chance für den Innovationsstandort Schweiz gesehen.»

Das ist eine klare Ansage. Denn einfach nur Stars einzukaufen, hilft der Schweiz nicht unbedingt weiter und bremst den einheimischen Nachwuchs. Die Wette dahinter ist, dass das Anheuern renommierter, hochqualifizierter Wissenschafter Multiplikatoreneffekte auslöst, sie andere gute Leute anziehen, dynamische Forschungscluster entstehen, die nicht nur den Universitäten, sondern auch der Wirtschaft und der Gesellschaft etwas bringen.

Allerdings, das weiss auch Zurbuchen, schläft die Konkurrenz nicht. Im Frühling schickte jede Woche ein neues Land einen finanziellen Willkommensgruss an die amerikanische Wissenschaftsgemeinde – ausser der Schweiz, die seltsam still blieb. So rollte Ursula von der Leyen eine 580-Millionen-Dollar-Initiative aus, um die «besten Wissenschafter» nach Europa zu locken. Japan sprach ein 700-Millionen-Paket, während Grossbritannien 72 Millionen äufnete für einen neuen «Global Talent»-Fonds. Und natürlich Frankreich: Neben weiteren Regierungsmillionen bot die Universität Aix-Marseille öffentlichkeitswirksam Forschern, die vor akademischer Repression an amerikanischen Universitäten flüchten wollten, für drei Jahre «wissenschaftliches Asyl» an.

Die Wirkungen davon sind noch unklar. In Aix-Marseille werden derzeit nur 21 amerikanische Forscher erwartet. Ihr Salär ist einiges tiefer als in den USA. Sie kämen wohl erst 2026, heisst es. Prominente Umzüge gab es nach Kanada, etwa jener des Historikers Timothy Snyder. Was sich allerdings abzeichnet: Grossbritannien wird überdurchschnittlich profitieren. Nach Angaben der Stelle, die im Vereinigten Königreich die Vergabe der Studienplätze im Auge hat, ist die Zahl der amerikanischen Studierenden, die sich im Herbst an britischen Universitäten bewarben, im Vergleich zum Vorjahr um 14 Prozent gestiegen – auf ein Rekordhoch von fast 8000. An der schottischen Universität St. Andrews ist beinahe jeder fünfte Student Amerikaner.

In der Schweiz hingegen erweist sich die Lage als durchzogen. Anders als in Grossbritannien ist über eine Stichprobe mehrerer angefragter Hochschulen hinweg kein signifikanter Anstieg von Masterstudierenden zu erkennen, die aus den USA kommen. Die Zahlen an der ETH und in Genf sind konstant. Mit einer nur leichten Zunahme rechnet die Uni Zürich, während es an der EPFL in Lausanne diesen Herbst doch 20 Prozent mehr sind. Was auch steigt, ist die Zahl der Inder, die in den USA abnimmt.

Auf Stufe der Forschenden wiederum sprechen einige von «deutlich mehr Bewerbungen auf Stellenausschreibungen», während andere offenbar nur «vereinzelt» Anfragen aus den USA bekommen. Eine grosse Welle sieht jedenfalls anders aus. Abgesehen vom Volkswirtschaftsinstitut der Uni Zürich, das sich auch mit Duflo und Banerjee noch nicht alle Wünsche erfüllt hat, profitiert offenbar auch die privat finanzierte Wirtschaftshochschule IMD in Lausanne vom Wechseldrang amerikanischer Professoren.

Das findet jedenfalls der Dekan Stefan Michel. Er meldet sich aus Singapur, wo er gerade Kandidaten für Professuren interviewt hat, und erzählt nebenbei, wie ein sehr erfolgreicher Forscher meinte, die USA seien keine Option mehr, man wolle als Ausländer ja nicht auf der Strasse angehalten werden. Seit Anfang des Jahres ist Michel mit sechs Leuten von führenden amerikanischen Universitäten in fortgeschrittenen Gesprächen, mit zweien konnte man sich bereits einigen, einer von ihnen kommt von der Wharton School, die das Ranking der besten Managementschulen anführt. Namen nennt er keine, die Kandidaten wollen das nicht an die grosse Glocke hängen, solange sie sich noch in den USA befinden.

«Das ist aussergewöhnlich. Früher hatten wir maximal eine solche Bewerbung pro Jahr. Jede Uni hat heute Chancen, guten Kandidaten aus den USA ein Angebot zu machen – und zwar nicht nur Leuten, die ursprünglich aus Europa sind.»

Sonst sind die Folgen des amerikanischen Braindrains für die Schweiz noch überschaubar. Auffallend bescheiden gibt sich die ETH, die wohl renommierteste Hochschule der Schweiz: Obwohl zum Beispiel von fünf im Juli neu angestellten Professoren vier zuvor in den USA lehrten, sieht die ETH noch «keinen ansteigenden Trend bei den Berufungen von Professoren aus den USA». Sie seien schon lange eines der wichtigsten Rekrutierungsländer.

Warum nur diese Zurückhaltung?

Anders als ihr Weltraumwissenschafter Thomas Zurbuchen sieht die Hochschule auch keinen Grund, sich besonders um fluchtwillige Forscher aus den USA zu bemühen. Ihre Strategie habe sich bewährt, um weltweit die besten Köpfe anzuziehen. Ähnliches sagen die EPFL, die Uni Basel oder Swissuniversities, die Konferenz der Hochschulrektoren, die meint, man werde die etablierten Rekrutierungsverfahren fortführen, die Schweiz sei ja auch dank ihrer guten Universitäten eines der «innovativsten» Länder der Welt.

Nach besonders innovativem Handeln klingt das allerdings nicht. Eine Erklärung mag sein, dass die Hochschulen unter dem Radar bleiben wollen, wenn sie amerikanische Kollegen umwerben, um die USA nicht öffentlich zu provozieren oder Forschungspartnerschaften zu gefährden. Denn Schweizer Wissenschafter arbeiten am häufigsten mit Kollegen und Kolleginnen aus den USA zusammen. Dabei fliessen derzeit auch noch amerikanische Gelder.

«Das Problem für die Universitäten ist das Timing», sagt Patrick Aebischer. Ausgerechnet jetzt steht ihnen eine Sparrunde bevor. Die Hochschulen sowie die Forschungs- und Innovationsförderung müssen gemäss Bundesrat für die Sanierung der Bundesfinanzen mit 460 Millionen weniger pro Jahr auskommen. Sich gegen diesen Sparbefehl zu wehren und gleichzeitig für den Einkauf amerikanischer Talente zu werben, passt gerade schlecht zusammen.

Denn solche Pakete für etablierte Professoren zu schnüren, ist nicht billig, wie der Fall Duflo/Banerjee zeigt. Neben dem Lohn geht es auch um langfristige Perspektiven, Zeit zum Forschen, gute Doktoranden. «Das bietet Europa noch zu wenig an. Hier sehe ich die Chance für die Schweiz, wo die Bedingungen besser sind», sagt Graeber.

Privates Fundraising, um Professuren zu schaffen: Das ist die Zauberformel der Ökonomen an der Uni Zürich in Zeiten des Spardrucks. Sie sind, wie sie ganz unschweizerisch sagen, offen für weitere Engagements. Auch Genf arbeitet an privat finanzierten «Chairs of Excellence», um ausländische Forscher in die Schweiz zu locken.

Und natürlich hat Patrick Aebischer, der schon als EPFL-Präsident immer mit queren Ideen für Furore sorgte, auch noch einen Vorschlag: einen sogenannten «matching fund», um den Braindrain aus den USA nicht nur in die offenen Arme der EU, sondern auch in die Schweiz fliessen zu lassen. Er soll von privaten Gönnern alimentiert sein, aber die öffentliche Hand dazu verpflichten, nochmals so viel einzuschiessen. Dazu sagt etwa Gerhard Pfister, langjähriger Beobachter der Universitäten und Nationalrat der Mitte: «Dass der Bund unter dem Aspekt des Standortwettbewerbs für so eine Idee Geld spricht, schliesse ich nicht aus. Einfach nicht zulasten des Sparbeitrags der Hochschulen.»

Mitarbeit: Tessa Szyszkowitz, Clara Hellner

Ein Artikel aus dem «NZZ am Sonntag»

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