Sicherheitszone, Sperrungen und ein gewaltiger Knall. Erst ein Warnton für die Tiere, dann ein dumpfes Donnern – und der erste Kühlturm des stillgelegten Atomkraftwerks Gundremmingen fällt in sich zusammen. Sekunden später der zweite. Mit der Sprengung der Kühltürme verschwand einer der größten Atomkraft-Standorte Deutschlands. Ein symbolischer Moment, könnte man meinen. Das Ende einer Ära. 

Vor Ort waren die Reaktionen gemischt: Erleichterung bei den einen, Wehmut bei den anderen. Pfarrer Frank Bienk aus dem Nachbarort Günzburg sprach von einer Polarisierung, die sich durch die Gemeinde ziehe. Doch im bundespolitischen Diskurs? Nichts. Als wäre die Frage mit den Türmen endgültig verschwunden.

Wie kommt es, dass in Deutschland das Thema Atomkraft ein derart toter Diskursgegenstand ist, dass man meinen könnte, die Kernkraft sei hierzulande lediglich ein Fiebertraum gewesen? 

Der deutsche Atomausstieg: Ein gesellschaftlicher Konsens

Als die Klimabewegung durch Fridays for Future Ende 2018 begann und 2019 massenhaft Jugendliche mobilisierte, spielte Atomkraft selbst in der Frage klimaneutraler Stromerzeugung keine Rolle mehr. Unter dem Eindruck der Reaktorkatastrophe des japanische Atomkraftwerks in Fukushima 2011 war ein gesetzlicher Atomausstieg beschlossen worden – eine Weichenstellung, die den weiteren energiepolitischen Verlauf in Deutschland prägen sollte.

Der Diskurs um nachhaltige und verlässliche Energieversorgung kennt seither nur noch zwei Pole:

  1. Die dreckige Kohleenergie – verteidigt von Industriegewerkschaften, Vertretern der Braunkohlereviere und der AfD, die als einzige Bundestagspartei eine Rückkehr zur Kohleverstromung fordert.
  2. Erneuerbare Energie – getragen von der Vision sauberer Energie aus Sonne und Wind und politisch vor allem von den Grünen unterstützt. Ausdruck findet diese Bewegung in Aktionen wie „Ende Gelände“ (seit 2015), Protesten gegen die Inbetriebnahme von Datteln IV (2020) und zuletzt der Räumung von Lützerath (2023).

Dazwischen versuchen sich CDU und SPD an einem halbgaren Kompromiss: Klimaschutz ja, aber nicht auf Kosten der Wirtschaftssicherung. Gas als Brückentechnologie, schrittweiser Kohleausstieg bis spätestens 2038, Ausbau der Erneuerbaren – aber bitte maßvoll.

Selbst Habecks Katar-Deal, der nach Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine eine energiepolitische Neuausrichtung erzwang, bewegt sich in dieser Logik: Gas statt Kohle, später dann Wind und Sonne statt Gas. Entweder fossile Klimasünde oder grüne Zukunft, oder eben der Kompromiss dazwischen – eine dritte Option, die Atomkraft, existiert im öffentlichen Bewusstsein nicht.

Atomkraft in den nordischen Ländern: Renaissance trotz Fukushima

Was in Deutschland – mit Ausnahme der AfD – parteiübergreifender Konsens ist, wirkt aus skandinavischer und finnischer Perspektive geradezu irrational. Dort kam es regelrecht zu einer Renaissance der Atomkraft mit Laufzeitverlängerungen und Neubauplänen. Nach Angaben der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) verabschiedete Schweden etwa 2023 einen recht ambitionierten Kernenergiefahrplan: zwei neue Reaktoren sollen bis 2035 ans Netz gehen, weitere zehn bis 2045. Das Land, das noch vor wenigen Jahren einzelne Reaktoren aus dem Netz nahm, setzt nun konsequent auf einen Ausbau der Kernenergie

Finnland ist in dieser Hinsicht der unbestrittene Vorreiter der Region. Im April 2023 ging mit Olkiluoto-3 der erste neugebaute Reaktor seit den 1990er-Jahren in Westeuropa ans Netz, während Deutschland wiederum seine letzten Meiler abschaltete. Rund 40 Prozent des Strommixes stammen in Finnland aus Kernenergie, Laufzeiten bestehender Reaktoren wurden darüber hinaus verlängert. Die Finnen haben ihre Energieversorgung längst auf diese Technologie ausgerichtet – mit Signalwirkung.

Selbst Länder, die bislang komplett auf Atomkraft verzichtetet haben, denken mittlerweile um. Dänemark, das seit 1985 ein striktes Atomkraftverbot verfolgte und vollständig auf erneuerbare Energien setzte, diskutiert seit 2025 eine Rückkehr. Das Parlament hat für eine Untersuchung der Potenziale und Risiken gestimmt – ein Kurswechsel für ein Land, das sich vier Jahrzehnte lang als Pionier der Windenergie verstand. Norwegen, ebenfalls ein Wasserkraft-Champion, prüft seit 2024 den Einsatz kleiner modularer Reaktoren, um die Energieversorgung langfristig zu sichern.

Umweltbewegung statt Physik?

Die nordischen Länder folgen damit offenbar der Physik und nüchterner Statistik, Deutschland hingegen seiner, vielleicht europaweit, einzigartigen Umweltbewegung. Sechzig Jahre lang hat der Widerstand gegen die Kernenergie die deutsche Umweltpolitik geprägt und bildet gewissermaßen den Gründungsmythos der Grünen. Im gleichen Jahr wurde zudem mit Winfried Kretschmann der erste grüne Ministerpräsident in der Geschichte Baden-Württembergs und der Bundesrepublik Deutschland gewählt.

Die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima führten zu jenem  Mentalitäts- und Politikwechsel, der den Atomausstieg erzwang. 2023 wurde schließlich die letzten drei Meiler Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim II vom Netz genommen – der Ausstieg war vollendet.

Damit endete auch eine der kontroversesten Debatten, die Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat. In den nordischen Ländern hingegen gab es weder eine vergleichbare Anti-Atom-Mobilisierung noch führten dieselben Katastrophen zu einem derartigen Kurswechsel – bis heute.

Kernenergie und Klimaschutz: CO₂-armer Strom im Vergleich

Blickt man rein auf die Ökobilanz, steht die Kernenergie gut da: Sie ist CO₂-arm. Die tatsächliche Bilanz hängt allerdings maßgeblich davon ab, mit welcher Methode der Brennstoff Uran angereichert wird und welche Energiequelle dabei zum Einsatz kommt – bei der Anreicherung wird nämlich der größte Teil des Energieaufwands benötigt.

Auch in Bezug auf die Versorgungssicherheit schneidet Kernenergie günstig ab – ein Aspekt, der für ein Industrieland wie Deutschland von erheblicher Bedeutung sein dürfte. Laut einer Studie des Fraunhofer-Instituts müsste Deutschland seinen jährlichen Strombedarf bis zur Mitte dieses Jahrhunderts auf 1.000 bis 1.500 Terawattstunden steigern. Das ist das Doppelte bis Dreifache unseres heutigen Verbrauchs. Sonnen- und Windenergie speisen jedoch wetter-, jahreszeit- und tagesabhängig ein und stellen daher keine gesicherte Leistung dar, betont Anna Veronika Wendland, die viele Jahre in Atomanlagen zu Reaktorsicherheit und nuklearer Arbeit geforscht hat.

In einem Beitrag für die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt Wendland zum Atomausstieg: „Kernkraftwerke, die im Jahr 2000 ein Drittel unserer Stromerzeugung bestritten, haben eine mit der Windkraft vergleichbare Treibhausgas-Bilanz.“ Zudem, sagt Wendland, konnten sich deutsche Kernkraftwerke flexibel an die schwankende Stromproduktion aus erneuerbaren Energien anpassen – sie waren bereits als Lastfolgeanlagen konzipiert, das heißt, sie konnten ihre Leistung an Marktpreise und die Anforderungen der Übertragungsnetzbetreiber anpassen. Wendland zieht das Fazit: Kernkraft arbeite an der Schnittstelle von Klimaschutz und Versorgungssicherheit.

Widersprüchliche Aussagen

Wie aber lässt sich erklären, dass Our World in Data (OWID), eine datenjournalistische Plattform der Universität Oxford, in ihren Analysen festhält, dass zu den CO₂-armen Energiequellen nicht nur erneuerbare Technologien wie Wasserkraft, Wind- und Solarenergie zählen, sondern auch die Kernenergie – und dass sie gemessen an Todesfällen pro erzeugter Energieeinheit sogar zu den sichersten Formen der Stromerzeugung gehört?

„Kernenergie und erneuerbare Technologien stoßen pro erzeugter Energieeinheit in der Regel sehr wenig CO₂ aus“, heißt es dort, „und sind zudem deutlich besser als fossile Brennstoffe, wenn es darum geht, die lokale Luftverschmutzung zu begrenzen.“

Zugleich schreibt das deutsche Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUKN) auf seiner Website über Atomkraft:

„Atomkraft ist weder CO₂-frei noch ist sie die CO₂-ärmste Art der Energieerzeugung. Denn gerade die energieintensive Brennstofferzeugung ist klimaschädlich. Hinzu kommen massive Umweltschäden und soziale Folgen beim Uranabbau. Atomkraft ist keine Option zur Klimarettung, denn sie ist zu teuer, zu langsam, zu gefährlich und nicht robust gegen den Klimawandel. Mit Strom aus Wind und Sonne gibt es längst eine viel bessere, klimafreundlichere und günstigere Alternative.“

Endlager und Sicherheit: Die ethische Debatte um Atommüll

Zwei Welten, zwei Erzählungen. Wie kann das sein? Liegt es an der Anti-Atom-Bewegung, die den moralischen Reflex auf Kernenergie quasi einprogrammiert hat?

Dabei gibt es durchaus berechtigte Fragen: Ein wesentlicher Aspekt ist die Endlagerung, die ernsthafte ethische Bedenken aufwirft. Was passiert mit dem Atommüll? Wie gefährlich ist seine Lagerung – und wo soll sie überhaupt erfolgen? 

Genau das ist der Angelpunkt der Grünen, jener Partei, die aus der Anti-Atom-Bewegung hervorgegangen ist. Auf der Bundestagsseite der Grünen steht: „Hochrisikotechnologie, die selbst mit bestem Ingenieurswissen niemals sicher sein wird.“

Zudem argumentieren sie ökonomisch: Atomkraft sei teuer – zumindest im Vergleich zu erneuerbaren Energien. Nicht nur die Stromkosten, sondern Baukosten, lange Bauzeiten, hohe Sicherheitsauflagen, Wartung, Rückbau und besonders die teure und ungelöste Entsorgung des Atommülls treiben demnach die Rechnung in die Höhe. Gerade mit Blick auf die unkalkulierbaren langfristigen Kosten stellt sich die Gefahrenfrage des Atommülls erneut.

Hier schlägt das Pendel zwischen unterschiedlichen ethischen Perspektiven aus: Einerseits die Gesinnungsethik, die strikt nach moralischen Prinzipien handelt, unabhängig von potenziell negativen Folgen. Andererseits die Verantwortungsethik, die die Konsequenzen des eigenen Handelns für andere und für kommende Generationen berücksichtigt. Beide Ansätze können sowohl zu einem Ja als auch zu einem Nein zur Atomkraft führen.

Subjektives Sicherheitsgefühl

Wendland argumentiert: Der in sechs Jahrzehnten deutscher Kernenergienutzung angefallene hochradioaktive Abfall ließe sich sicher in geologischen Tiefenlagern unterbringen. Anders als bei technischen Anlagen hinge die Sicherheit nicht von Menschen oder Maschinen ab, sondern vom Gestein selbst – Granit, Ton oder Salz isolieren den Müll und leiten seine anfängliche Wärme ab. Nach dem Verschluss, rund hundert Jahre nach der Standortentscheidung, könne das Lager sich selbst überlassen werden. Länder wie Finnland oder die Schweiz zeigten, dass solche Konzepte funktionieren. Auch Deutschland verfüge über die passenden Gesteinsarten.

Die Wahrnehmung von Risiken folgt letztlich eigenen Gesetzen. Es ist vielleicht wie beim Flugzeugabsturz: Tritt ein tragischer Unfall ein, ist das Ausmaß groß und der Schock enorm. Dabei bleibt das Flugzeug das sicherste Verkehrsmittel, vor allem im Vergleich zum Auto. Entscheidend ist das subjektive Sicherheitsgefühl und die daraus resultierende kollektive Einschätzung.

Pragmatismus oder Ideologie?

Auffällig ist: Es gibt keineswegs eine einheitlich „grüne“ Haltung zur Kernenergie. Deutschland bildet damit zumindest im nordeuropäischen Vergleich einen Sonderfall. In den nordischen Ländern zeigen sich grüne Parteien teilweise deutlich offener. In Norwegen begrüßen die Grünen den energiepolitischen Kurswechsel hin zur Kernenergie. Auch in Finnland ist Grün-Sein und Atomkraft-Befürworten kein Widerspruch.

Im Gegenteil: Die Grüne Jugend und Teile der grünen Bewegung befürworten Atomkraft als klimaneutrale Brückentechnologie – ein pragmatisches Mittel gegen fossile Brennstoffe. Der Fokus liegt auf fossilfreiem oder fossilarmen Strom. Die Konsequenz: Sie konzentrieren sich auf den Verzicht auf Kohle und Gas. Deutschland hat die umgekehrte Reihenfolge gewählt. Die Atomkraft ist bereits Geschichte, der Kohleausstieg kommt – vielleicht – 2038.

Wer einst gegen Atomkraft war, muss nicht automatisch für sie sein. Viel wichtiger wäre ein offener, faktenbasierter Diskurs, der die energiepolitischen Herausforderungen klar benennt und alle Perspektiven ernst nimmt.