Mit einer ungewohnten Schärfe hat Mario Draghi, ehemaliger EZB-Präsident und Ex-Ministerpräsident Italiens, die Europäische Union in ihrer derzeitigen Form für gescheitert erklärt. In einer Rede am Freitagabend im spanischen Oviedo malte er das Bild eines Kontinents, der an seiner eigenen Struktur erstickt und nicht mehr in der Lage ist, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen.

„Die Welt um uns herum hat sich grundlegend verändert, doch Europa fällt es schwer, darauf zu reagieren“, sagte Draghi in Oviedo, wo er den Prinzessin-von-Asturien-Preis für internationale Zusammenarbeit erhielt.

Europa in der Sackgasse

Anstelle von Offenheit und multilateraler Zusammenarbeit, die einst die Grundlage des europäischen Wohlstands bildeten, sei der Kontinent nun mit einem Wiederaufstieg von Machtpolitik und Protektionismus konfrontiert. Doch Europa sei darauf nicht vorbereitet und handlungsunfähig, so Draghi. „Dies wirft eine kritische Frage auf: Warum können wir uns nicht ändern?“

Draghi widersprach der viel zitierten Annahme, dass Europa in der Krise zusammenwachse: „Oft wird behauptet, Europa werde in Krisen geschmiedet. Doch wie akut muss eine Krise werden, damit unsere Politiker ihre Gedanken bündeln und den politischen Willen zum Handeln aufbringen?“

Es folgte eine Fundamentalkritik an der Funktionsweise der EU. Europa sei strukturell zu langsam, zu fragmentiert und in nationalen Interessen gefangen. Die derzeitige Struktur – eine lose Konföderation ohne echte Entscheidungsmacht – könne weder dem geopolitischen Druck noch dem technologischen Systemwettbewerb mit den USA und China standhalten. „Das Modell, das wir heute haben, lässt Verantwortlichkeiten auf nationaler Ebene, die dort nicht mehr wirksam erfüllt werden können“, so der Italiener.

Draghi diagnostiziert Systemversagen

Für Draghi ist die Lage eindeutig: Entweder Europa verändert sich radikal, oder es verliert seine Zukunft. „Heute sind die Aussichten für Europa so schlecht wie nie. Fast alle Grundsätze, auf denen die Union beruht, stehen unter Druck.“

Statt einer Vollintegration aller Mitgliedstaaten fordert Draghi einen radikalen Kurswechsel – nicht hin zu einem klassischen Bundesstaat, sondern hin zu einem „neuen, pragmatischen Föderalismus“, der handlungsfähig ist. Dieser Föderalismus solle auf realen Projekten und national legitimierter Zusammenarbeit basieren und nicht auf symbolischer Integration. Europa müsse sich über Projekte und Interessen neu organisieren und nicht über zentrale Bürokratien. Draghi schlägt Koalitionen der Willigen vor: Staaten, die bereit sind, gemeinsam in Verteidigung, Energie, Technologie und Industrie zu investieren, ohne von Vetostaaten blockiert zu werden.

Draghi als Architekt einer neuen EU-Strategie

Die Rede in Oviedo reiht sich in Draghis Positionierung der vergangenen Jahre ein. Seit seinem Rückzug aus dem Amt des italienischen Ministerpräsidenten im Oktober 2022 hat er sich als prominentester Kritiker des europäischen Status quo etabliert. In einem im September 2024 vorgelegten 400 Seiten starken Bericht forderte er jährliche Zusatzinvestitionen von bis zu 800 Milliarden Euro, um die industrielle Basis und technologische Souveränität Europas zu sichern.

Besonders deutlich wandte er sich dabei gegen die deutsche Politik, die gemeinsame Investitionen und Schuldenbündelung ausbremst und damit laut Draghi die globale Konkurrenzfähigkeit Europas gefährdet.