Aufmärsche von Rechtsextremen und Islamisten, Skandale um Vergewaltigungen und zwei Traditionsparteien im Niedergang: Grossbritannien wird von Krisen erschüttert. Der Politikwissenschafter Eric Kaufmann ordnet ein.

«Negative Einstellung gegenüber dem Establishment und den etablierten Parteien»: Nationalistische Demonstranten in London, 13. September 2025.«Negative Einstellung gegenüber dem Establishment und den etablierten Parteien»: Nationalistische Demonstranten in London, 13. September 2025.

Joanna Chan / AP

Herr Kaufmann, die zwei grossen britischen Parteien implodieren, das einst stolze Land erscheint höchst instabil. Wie würden Sie den Zustand des Vereinigten Königreichs beschreiben?

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Wir leben in einer sehr interessanten Zeit. Die Wähler wenden sich von den zwei alten Mainstream-Parteien ab. Auf der rechten Seite ist die Wählerschaft zu einem beträchtlichen Teil zu Reform UK gewandert, einer populistischen rechten Partei unter der Führung von Nigel Farage. Deren Entwicklung ist erstaunlich.

Inwiefern?

In den 2010er Jahren kam Farages UK Independence Party (Ukip) auf, deren Wählerschaft hauptsächlich vom Wunsch nach einer Reduzierung der Einwanderung motiviert war. 2014 erhielt die Ukip bei den Europawahlen fast 30 Prozent der Stimmen. Sechs Jahre später kam die Brexit-Abstimmung. Die Konservativen unter Boris Johnson, die voll hinter dem Brexit standen, konnten Farages Wählerschaft weitgehend absorbieren. Statt dass sich die Einwanderung reduzierte, schoss sie nach der Covid-Krise in die Höhe, auf fast 800 000 pro Jahr. Das waren viel mehr als vor der Brexit-Abstimmung! Auch die illegale Einwanderung über den Ärmelkanal nahm zu. Johnson hatte die Brexit-Wähler verraten. Das ist die Hauptursache für den Zusammenbruch der Tory-Partei und den Aufstieg von Reform UK.

Auch wirtschaftlich lief es nicht gut.

Da steht das Vereinigte Königreich an einem ähnlichen Punkt wie andere europäische Länder. Die Staatsschulden sind durch Covid stark gestiegen, in der Folge stagnierte die Wirtschaft. Dann kam die neue Labour-Regierung mit grosser Mehrheit an die Macht, obschon sie nur 30 Prozent der Stimmen erhielt. Ihre Beliebtheitswerte sanken sehr schnell, obschon man fairerweise sagen muss, dass sie ihre Probleme grösstenteils von der konservativen Vorgängerregierung geerbt hat. Nun sehen wir bei den Kommunalwahlen, dass Farages Reform UK sowohl in den alten Labour- als auch in den Tory-Gebieten die meisten Stimmen holt.

Die Stimmung ist in beiden politischen Lagern aufgeheizt. Weshalb?

Die Wählerschaft auf beiden Seiten fühlt sich betrogen. Selbst Leuten, denen Einwanderung am Herzen liegt, läuft die Entwicklung zu schnell. Die ethnischen Verschiebungen sind nicht nur in Grossstädten wie London festzustellen, sondern auch in kleineren Orten im Norden Englands, wo Asylsuchende verteilt wurden. Angeheizt wird die Stimmung durch zahlreiche Zwischenfälle, die in den sozialen Netzwerken schnell die Runde machen: die Festnahme von Leuten, die sich im Internet migrationskritisch äussern, oder gewalttätige Angriffe von Migranten, wie der Messerangriff 2024 in Southport auf einen Tanzkurs zur Musik von Taylor Swift, bei dem drei Mädchen ermordet wurden.

Nach diesem Angriff kam es landesweit zu Protesten, die in hiesigen Medien oft als rechtsextrem eingestuft wurden. Wie schätzen Sie diese Proteste ein?

Einige waren gewalttätig, andere friedlich. Die Labour-Regierung aber hat alle pauschal verteufelt. Viele haben dies als Einschnitt in die Meinungsfreiheit empfunden. Eine Reaktion darauf ist eine Bewegung, die überall im Land englische oder britische Flaggen hisst, als Zeichen des «patriotischen Widerstands». In einigen Fällen haben Behörden diese Flaggen entfernen lassen, was die Proteste natürlich angeheizt hat.

Als der rechtsextreme Aktivist Tommy Robinson im September zur grossen «patriotischen» Demonstration in London aufrief, folgten ihm über 100 000 Menschen. Wie kam das?

Robinson hat die Dynamik genutzt, die in den letzten Monaten entstanden ist. Die Rechte war bisher bei der Mobilisierung für Strassenproteste immer schwächer als die Linke. Diese Demonstration aber war ähnlich gross wie der Palästina-Marsch. Die zwei Kundgebungen zeigen die zwei konkurrierenden Narrative auf, die zurzeit den Ton angeben.

Das heisst, die moderaten Kräfte werden durch die extremen Rechten und die extremen Linken zerrieben?

Ich wäre vorsichtig mit einer Interpretation. Solche Grossdemonstrationen sagen nichts über die Mehrheitsmeinung aus, sondern spiegeln bloss die Fähigkeit einer Gruppe, sich zu organisieren. Was man aber sagen kann: Es herrscht eine Unzufriedenheit im Land, eine negative Einstellung gegenüber dem Establishment und den etablierten Parteien. Das sieht man auch auf der linken Seite, wo sich viele Wähler von der Labour-Partei abwenden und zur ideologischen extremen Linken wechseln.

Sind die patriotischen Flaggen-Proteste und die Pro-Palästina-Proteste Ausdruck eines wachsenden Kulturkampfes?

Wir stecken tatsächlich in einem Kulturkampf, doch dieser spielt sich weniger auf der Strasse ab als im Internet und in den Zeitungen. Dabei geht es um Themen wie Transgender, die britische Geschichte, Kolonialschuld und Rassismus oder die Gender-Ideologie in Schulen. In den USA waren diese Kulturkampf-Themen gemäss meinen Untersuchungen ein wichtiger Faktor bei Wahlen. Sie haben zu Trumps Sieg beigetragen. In Grossbritannien spielen sie jedoch keine grosse Rolle.

Die Einwanderung aber schon.

Ja und die Kriminalität. Man kann diese Themen auch unter das Stichwort Kulturkampf stellen. Durch Tabus werden rote Linien geschaffen, die es den Mainstream-Parteien schwer machen, über die problematischen Aspekte der Einwanderung zu sprechen und Abschiebungen durchzuführen. Der Mangel an Debatten, die fehlende Bereitschaft, Probleme anzugehen – all das wühlt die Bevölkerung auf.

Kürzlich sagte die Polizei eine Demonstration der Ukip in London aus Sicherheitsgründen ab. Aus dem gleichen Grund wurden in Birmingham Fans des Fussballvereins Maccabi Tel Aviv nicht ins Stadion gelassen, nachdem unter anderem ein Imam zum Widerstand aufgerufen hatte. Kann der Staat die Sicherheit nicht mehr garantieren?

Solche Vorfälle verstärken wohl den Eindruck, dass manche Meinungen und Gruppen vom Staat kriminalisiert oder zumindest nicht ausreichend geschützt werden.

Keir Starmer hat den Ausschluss der Fans kritisiert.

Er bewegt sich auch hier auf einer Gratwanderung. Er hat den Ausschluss der Fans kritisiert, wahrscheinlich auch, weil er die von der Trump-Regierung erhobenen Vorwürfe, Grossbritannien habe ein Problem mit der Meinungsfreiheit, kontern will. Gleichzeitig beschäftigt er weiterhin NGO und Gremien wie das College of Policing, die von der «woke left» unterwandert sind und den Schutz vor emotionalen Verletzungen über die Meinungsfreiheit stellen. So verbindet sich in Teilen der Bevölkerung die Sorge um die Meinungsfreiheit mit der Frustration über die Einwanderung. Ein gefährlicher Cocktail.

Starmer hat auch versprochen, die illegale Migration zu bekämpfen und die Zahl der illegalen Einreisen zu reduzieren. Meint er es ernst?

Er würde es sicher begrüssen, wenn es keine illegale Einwanderung gäbe. Das Problem ist: Starmer war selber Menschenrechtsanwalt. Um die Kontrolle über die Grenze zu erlangen und grossangelegte Abschiebungen durchzuführen, muss man sich gegen jene Juristen wehren, die die Menschenrechte in grosszügigster Weise zugunsten der Migranten auslegen und Institutionen wie den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof dominieren. Dazu ist Starmer nicht bereit, weil er sich über tief verwurzelte Überzeugungen der Linken hinwegsetzen müsste.

Grossbritannien hat ein Abkommen mit Frankreich geschlossen, um die Migration über den Ärmelkanal einzuschränken. Das ist doch ein erster Schritt.

Bis jetzt sind nur etwa 40 Menschen zurückgeschickt worden. Ob sich das bessert, ist zweifelhaft.

Die Labour-Regierung will wie Emmanuel Macron einen palästinensischen Staat anerkennen. Täte er das auch, wenn in den letzten Jahrzehnten Millionen Juden und nicht Millionen Muslime nach England eingewandert wären?

In England sind 6,5 Prozent der Bevölkerung Muslime, das gibt sicher einen gewissen Druck auf die Regierung. Ich denke aber nicht, dass das ausschlaggebend war. Der Druck der Linken und der extremen Linken war wohl wichtiger. Starmer muss sich Sorgen machen, dass er Stimmen an die Grünen und an Jeremy Corbyn und diese anderen Gruppierungen verliert. Er schützt diese Flanke. Hinzu kommt, dass Palästina für Labour seit Jahren ein wichtiges Thema ist.

In Grossbritannien gibt es immer mehr muslimische Bürgermeister und Parlamentarier. Für Rechte ist das ein Zeichen der Islamisierung, Linke sehen es als Zeichen für gute Integration. Wer hat recht?

Die muslimische Bevölkerung ist auf die städtischen Gebiete konzentriert. An einigen Orten ist sie sehr stark segregiert, wie in Blackburn, Oldham oder Burnley, wo es 2001 zu Unruhen kam. Deshalb gibt es lokale Bürgermeister, die von ethnischen Gruppen gewählt werden, etwa von Bangalen wie Lutfur Rahman in East London. In seinem Quartier wurden englische Fahnen abgehängt, während palästinensische wehen durften. Es gibt auch Parlamentarier, die sich mehr mit Gaza als mit den Anliegen der Bevölkerung beschäftigen. Natürlich ist die Wahl solcher Leute demokratisch, aber meiner Meinung nach sollten die Menschen nach Themen wählen, nicht nach ethnischen Prinzipien. Das eigentliche Problem ist: Es gibt keine Regierungspolitik, die bisher zur Integration beigetragen hat.

Wie meinen Sie das?

In Nordengland gibt es Schulen, die ausschliesslich von Pakistanern besucht werden, andere nur von Weissen. Durch die Migration kommen Leute zusammen, aber sie leben getrennt. Man kann sie ja auch nicht zwingen, an einem bestimmten Ort zu leben. Migranten ziehen oft dahin, wo bereits viele ihrer Landsleute leben, die Weissen ziehen um und meiden bestimmte Gegenden. Die einzige Möglichkeit, diese Segregation zu verhindern, ist, die Einwanderung zu verlangsamen.

Der Skandal um die Grooming-Gangs hat Grossbritannien erschüttert. Migrantische Gangs hatten Tausende von britischen Mädchen vergewaltigt, die Behörden schauten aus Angst vor Rassismusvorwürfen während Jahren weg. War dieser Skandal ein Wendepunkt?

Der Grooming-Skandal ist ein Spiegelbild zweier Missstände: die Konzentration von Einwanderern aus muslimischen Ländern in gewissen Quartieren, die ganz andere Werte haben, und die politische Korrektheit, die eine Aufklärung der Gruppenvergewaltigungen lange verhinderte. Für die Linke gilt: Man darf nichts sagen, was die Gefühle von Minderheiten verletzen oder als rassistisch wahrgenommen werden könnte. Deshalb wurden die Vorfälle lange heruntergespielt. Ohne diese falsche Rücksichtnahme hätte viel Leid verhindert werden können. Die gegenwärtige Schwäche der Labour-Partei hat auch damit zu tun, dass sie stark mit diesem politischen Versagen in Verbindung gebracht wird.

Ging es um eine Art umgekehrten Rassismus? Weil die Opfer weiss waren und die Täter Migranten, hat man nicht interveniert?

Die öffentliche Moral und alle Sensibilitäten drehen sich um die Tabus der Linken: Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, Sexualität. Selbst Menschen aus der politischen Mitte zögern, wenn eine Aussage den Anschein erwecken könnte, gegen eines dieser Tabus zu verstossen. Die Linke hat diese kulturelle Macht institutionalisiert. Jede Abweichung kann den «sozialen Tod» bedeuten, wie der amerikanische Linguist John McWhorter sagt.

Zur PersonEric Kaufmann

1970 in Hongkong geboren, stammt Eric Kaufmann aus einer multiethnischen Familie. Aufgewachsen ist er in Kanada und Japan, sein Vater ist jüdisch. Als Politologe forscht er zu Themen wie Nationalismus, politische und religiöse Demografie und Migration. In seinem Buch «Whiteshift» schreibt er, Sorgen von weissen Einwohnern über die demografische Entwicklung seien berechtigt. Nach Mobbing-Aktionen von Studenten und Kollegen hat er die Birkbeck University in London verlassen und lehrt nun an der privaten University of Buckingham.

Der Antisemitismus hingegen ist in breiten Kreisen salonfähig geworden. Das zeigen unter anderem die israelfeindlichen Proteste, die nach der Attacke eines Islamisten auf Besucher einer Synagoge ungerührt weitergingen.

Beim Antisemitismus gab es schon immer ein gewisses Mass an Unehrlichkeit. Die grösste Gefahr für die Juden geht heute von Muslimen aus, die Bedrohung durch die extreme Rechte ist eher gering. Es ist wie beim Terrorismus: Auch da stellt der Islamismus nach wie vor die mit Abstand grösste Bedrohung dar, aber linke Organisationen versuchen immer, davon abzulenken, indem sie den Fokus auf die extreme Rechte richten. Die Unwilligkeit, Wahrheiten zu benennen, die mit Minderheiten zu tun haben, ist fest in der DNA der Politiker und der akademischen Gemeinschaft verankert. Das fliegt den etablierten Parteien nun um die Ohren. Keir Starmer allerdings hat in dieser Frage gute Absichten, er ist ja mit einer Jüdin verheiratet.

Erleben wir bald das Ende des traditionellen Zweiparteiensystems in Grossbritannien? Bewegt sich das Land auf das europäische System zu mit vielen Parteien und Koalitionen?

Wir haben es mit einer Fragmentierung zu tun, auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Doch beim britischen System erhält die stärkste Partei fast alle Macht, auch wenn sie weniger als 50 Prozent der Stimmen holt. Deshalb wird oft taktisch gewählt. Bei den nächsten Wahlen wird Labour den Anhängern der Grünen und der Liberaldemokraten sagen: «Wenn ihr Farage als Premierminister wollt, dann wählt die Grünen und die Liberaldemokraten. Um ihn aufzuhalten, müsst ihr uns wählen.» Dasselbe auf der rechten Seite. Farage wird sagen: «Wenn ihr wollt, dass die Linken an der Macht bleiben, dann wählt die Tories, sonst uns.»

Farage könnte tatsächlich Premierminister werden?

Im Moment steht ausser Frage, dass Reform UK die mit Abstand grösste Partei ist. Sie wird also eher als die Konservativen von taktischen Stimmen profitieren. Auf der linken Seite hat nach wie vor die Labour-Partei die Nase vorn. Es sieht also alles nach einem Zweikampf zwischen Labour und Reform UK aus.