Es begann mit einer „Problemwand“ im Mannheimer Quadrat J5, die zwar 40 Meter lang, aber nur fünf Meter hoch ist. Das Zentralinstitut für seelische Gesundheit wollte sie der Freiluft-Galerie für urbane Kunst Stadt.Wand.Kunst zur Gestaltung anbieten – und sie stellte sich als ideal für einen langen Schriftzug heraus. In den Farben des Regenbogens prangen nun die Buchstaben „En faire voir de toutes les couleurs“, was so viel bedeutet wie „Die Welt zum Staunen bringen“ aber auch „es zu bunt treiben“. Die Sprüche, die The Blind oft grellfarbig und als fühlbares Relief in Brailleschrift auf Mauern aufträgt, sind provozierend zweideutig. „Vu et revu“ (sehen und gesehen werden) heißt es in Paris im Angesicht des Eiffelturms, was Blinden ironisch vorkommen muss. „Voulez-vous touchez avec moi ce soir“ steht in Montpellier und ist als Aufforderung geradezu ernst gemeint. Denn nur gemeinsam können die Werke entschlüsselt werden: „Sehende und Nichtsehende brauchen einander, damit die Botschaft vollständig wahrgenommen werden kann“, sagt er im Gespräch mit dem Institut Français, dessen Domizil nur wenige Schritte entfernt ist und das den Künstler aus Nantes eingeladen hat. Erst sprayt der Streetartist die Punkte der Brailleschrift mit Schablonen auf. Dann werden Halbkugeln aus Gips darauf geklebt. Nur Blinde können verstehen, was die sehbehinderten Kinder der Schloss-Schule aus Ilvesheim, die an der Entstehung mitgewirkt haben, als Redewendung ausgesucht und mit aufgetragen haben: „Rot sehen“.
The Blind vor einem früheren Kunstwerk.Foto: The Blind
Für die gesellschaftliche Dimension der (Schrift-)Sprache interessiert sich The Blind, der Kunst in Nantes studiert hat, weil er eine Leseschwäche hat. Geboren 1983 habe es in seiner Kindheit noch keine Hilfen gegeben, was er sich gewünscht hätte. Umso mehr setzt er sich jetzt für Inklusion ein und bezeichnet sich als „artiviste“ als Mischung aus Künstler und Aktivist. Die Initialzündung war, als er ein riesiges Graffiti an der Autobahn gesprüht hatte, sichtbar für alle. „Außer den Blinden“, dachte er. Seit 2004 widmet er sich als einziger Streetart-Künstler der Braille-Schrift und findet originelle Varianten: Von erkletterbaren Buchstaben bis hin zu ertastbaren Brüsten, die „Touchez!“ ergeben, was „berührt“, aber auch „erwischt“ bedeutet und auf die Gefahr von Brustkrebs hinweist.