Bibbernd steht Marija im nassen Badeanzug in der Umkleide einer Schwimmhalle. Die Kamera nimmt sie von der Decke aus ins Visier – wie eine in die Falle getappte Maus bei einem Verhaltensexperiment. Marijas Jeans ist weg. Der Spind, in den sich ihr ratloser Blick hineinbohrt, gleicht einem Korridor in einen tiefen Schlund.

Einige Tage später taucht die Jeans an den Beinen der biestigen Kristina wieder auf, was eine blindwütige Prügelei bei strömendem Regen in Gang setzt.

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Doch als das begehrte, im Grunde ziemlich hässliche Teil zum Trocknen an einer Wäscheleine baumelt, sind die beiden dreizehnjährigen Mädchen (verkörpert von den Laiendarstellerinnen Vesta Matulytė und Ieva Rupeikaitė) bereits zu Verbündeten zusammengeschweißt. Wohl mehr aus Not und Bedürftigkeit, denn aus aufrichtigem Interesse an der anderen Person.

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Marija, die Neue, ist baumlang und durch eine angeborene Gehbehinderung zum bevorzugten Mobbing-Opfer auserwählt. Sogar die eigene (stets im Off bleibende) Mutter, die sie den Sommer über bei der Großmutter abgeladen hat, nennt sie abfällig Hinkebein.

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Dabei liegt das eigentliche Handicap darin, in dem im litauischen Hinterland gelegenen Kaff gestrandet zu sein. Eine graue Umgebung, weder Stadt noch Land, geprägt von Kühltürmen, Hochspannungsmasten, stillgelegten Eisenbahnschienen und leerstehenden Industriegebäuden.

Raus aus dem postsowjetischen Niemandsland

Neuerdings sind die Backsteinwände mit Plakaten zugepflastert, auf denen ein in Pose geworfenes Frauengesicht für eine Modelschule wirbt. Von den Jugendlichen werden sie regelmäßig lustvoll mit Edding und Zigaretten malträtiert. Das Versprechen, aus dem postsowjetischen Niemandsland herauszukommen und in „Japan oder Paris“ Karriere zu machen, lockt zahlreiche Teenager, ob groß, klein, dünn, gerade oder schief gewachsen, in die Fänge der zwielichtigen Organisation.

Im Neonlicht eines fensterlosen Untergeschosses rückt die Model-Agentin Roma (Eglė Gabrėnaitė) den Mädchen mit Maßband und Selbstoptimierungsformeln zu Leibe. Kristina, die bereits dabei ist, schleppt ihre hinkende Freundin Marija mit. „Wir werden das in Ordnung bringen. Du wirst hüpfen und tanzen“, versichert Roma.

„Toxic“ (nach dem inflationär gebrauchten Trendbegriff für diverse Formen von Missbrauch, Dominanz und andere Gifte) nennt sich das 2024 beim Filmfestival Locarno mit dem Hauptpreis ausgezeichnete Spielfilmdebüt der jungen litauischen Regisseurin Saulė Bliuvaitė. Die Dramaturgie der Abwärtsspirale, die man mit einer bestimmten Ausprägung des osteuropäischen Kinos verbindet, lässt nicht lange auf sich warten.

Der Film

Toxic, Litauen 2024, Regie und Buch: Saulė Bliuvaitė. Mit: Vesta Matulytė, Ieva Rupeikaitė, Giedrius Savickas, Vilma Raubaitė, Eglė Gabrėnaitė. 99 Minuten. Kinostart: 24. April

Allerdings strapaziert und sprengt Bliuvaitė den Rahmen des Sozialdramas durch formale Eigenwilligkeit. Den ins Surreale rutschenden Bildwelten des frühen Harmony Korine steht „Toxic“ deutlich näher als dem „klassischen“ Miserabilismus. Auch eine Nähe zum Horrorkino scheint gelegentlich auf.

Verwahrloste Familienverhältnisse und fehlende Perspektiven treiben die Mädchen zu immer extremeren Formen des Missbrauchs am eigenen Körper. Watte essen, Hungern, Kotzen und nächtliches Binge-Eating zählen noch zu den harmloseren Methoden.

Ein im Darknet bestellter Parasit, der in Kristinas Bauch heranwächst und ihr das Körperfett wegfrisst, ist dabei nur der Höhepunkt eines Body Horrors, der in der Zurichtung und Objektifizierung des weiblichen Körpers schon längst Normalität geworden ist.

Catwalk-Choreografien in der Schule

Die Schule, als ein Raum kultähnlicher Catwalk-Choreografien in Szene gesetzt, übt aber nicht nur mit ihren Gewichtsklauseln Druck aus. Vermeintlich professionelle Foto-Shootings, die die Aussichten auf eine Model-Karriere vergrößern sollen, fordern finanziellen Einsatz.

Kristinas Vater (Giedrius Savickas) verkauft das Auto, um sie zu unterstützen, andere müssen selbst initiativ werden. Das Gerücht geht um, ein Mann mit Rückenproblemen würde für „Massagen“ großzügig bezahlen.

Filmstills aus dem Film „Toxic“ von Saulė Bliuvaitė

© Grandfilm/Akis Bado

Auch wenn der Film seine Figuren nicht ausliefert und den Missbrauch mit Widerborstigkeit kreuzt, gefällt er sich gelegentlich doch in expliziten, garstigen Darstellungen. Einmal fällt der Blick im Close-up auf einen von Maden wimmelnden Haufen von Essensresten – Kristinas Mahlzeiten, die sie regelmäßig aus dem Fenster kippt. Gerne auch hält sich der Film in grindigen Toiletten auf.

Perspektivisch wechselt der Film zwischen empathischer Nähe zu den Figuren und observatorischen Einstellungen. Aus den trostlosen Ansichten verschlissener Interieurs und industrieller Topografien, die in unterkühlten, kränklichen Farben eingefangen werden, vermag es der Film aber immer wieder, eine verrutschte Schönheit sichtbar werden zu lassen. Auch für Momente menschlicher Wärme und Zärtlichkeit ist Platz.

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Dem ausbeuterischen, misogynen System, das der Film mit effektvoller „Weirdness“ vorführt, setzt er durch vielfältige Körperbilder Widerstand entgegen. „Sagen Sie mir nicht, was schön ist“, sagt, ausgerechnet, die Model-Agentin.