Was wäre, wenn während eines Klassikkonzerts tatsächlich alle 2100 Zuhörenden ihr Handy zückten, den Rat der freundlichen Stimme folgend? In den Konzerten des SWR Symphonieorchesters im Stuttgarter Beethovensaal wird jetzt zu Beginn darauf hingewiesen, bitte den QR-Code auf dem Ablaufzettel einzuscannen, um sich während des Konzerts im digitalen Programmheft über Werke und Mitwirkende zu informieren. Gedruckte Hefte gibt es nicht mehr.
Ist der SWR so verarmt? Eigentlich ja nicht. Nach den Abo-Konzerten des SWR Vokalensembles gibt es jetzt Freigetränke. Hier wird das Geld weggenippt, dort frisst der Sparfuchs das wichtigste Medium musikalischer Aufklärung weg.
Fragen stellen sich in Klassikkonzerten ja nicht davor oder danach, sondern währenddessen, wie jetzt auch wieder beim SWR-Orchester: Wer ist Pierre Bleuse, der Mann am Dirigierpult, der ein bisschen aussieht wie Erik Satie? Warum führt das Orchester gerade „Tune and retune II“ von Francesca Verunelli auf, und warum heißt das Stück so? Und wie war noch mal die „Handlung“ von Berlioz’ „Symphonie fantastique“?
Welche Abteilung des Rundfunks hat sich bloß ausgedacht, das Publikum in solchen Fragen aufs Internet zu verweisen? Ist den Verantwortlichen eigentlich klar, wie sehr es ablenkt, wenn sich Personen um einen herum mit etwas anderem beschäftigen als mit dem Hören? Das klassische Konzert ist ein zartes Pflänzchen aus einer anderen Zeit. Man muss es vehement verteidigen gegen unsere lärmende, zerstreute Gegenwart.
So auch besagtes Stück von Verunelli. Ein schütterer Klangwald baut sich da auf: Zwanzig Minuten zerklüftete Klangfläche, aus der sich punktuell einzelne Stimmen des riesig besetzten Orchesters erheben. Mal fällt sie energielos zusammen, mal breitet sie sich eruptiv aus. Warum gab es so viele Buhs dafür?
Die Abonnenten des SWR-Orchesters sind ja eigentlich an Neue Musik gewöhnt. Vielleicht waren es ja ungeduldige Fans des Klassikstars Sol Gabetta, die anschließend das romantische Cellokonzert von Édouard Lalo spielte. Das Orchester übte sich sensibel im Leisespielen, denn Gabettas expressives Cellospiel verliert sich schnell in den Weiten des Beethovensaals der Stuttgarter Liederhalle.
Auch wenn das Orchester gelegentlich ein bisschen gelangweilt wirkte: Der elegant und schwungvoll dirigierende Pierre Bleuse machte seine Sache gut. Straff gestaltete sich der Spannungsbogen der Berlioz’schen „Symphonie fantastique“, die musikalisch den psychischen Verfall eines lyrischen Ichs nachzeichnet. Sehr plastisch, sehr farbig!