SENDETERMIN So., 02.11.25 | 23:05 Uhr | Das Erste
Einer der wichtigsten Prozesse der Menschheitsgeschichte
Es war ein einmaliger Vorgang in der Menschheitsgeschichte: Zum ersten Mal sollten die Verantwortlichen für Krieg und Völkermord vor ein ordentliches Gericht gestellt werden. Die Alliierten wollten dem Unrecht der Nazis und dem Grauen des Holocausts mit Rechtsstaatlichkeit begegnen. Das ARD-Dokudrama „Nürnberg 45 – Im Angesicht des Bösen“ erzählt mit Spielszenen, nachkoloriertem Archivmaterial und Interviews die Geschichte dieses einmaligen Gerichtsverfahrens. Im Mittelpunkt des Films stehen von zwei Holocaust-Überlebende: Ernst Michel, damals 22 Jahre alt, und Seweryna Szmaglewska, damals 29 Jahre alt. Das ARD-Dokudrama wird am 9. November im Ersten gesendet und ist in der ARD-Mediathek zu sehen.
Ernst Michel – ein Überlebender erstattet Bericht
Der Auftakt des Prozesses im November 1945. Unter den Anwesenden ist Ernst Michel, der wie durch ein Wunder Auschwitz überlebt hat. In Nürnberg sitzt er im Gerichtssaal Auge in Auge mit den Tätern. Es war „einfach unfassbar. Verrückt“, erinnert sich Ernst Michel in einem Interview von 2005. „Sechs Monate zuvor bin ich noch aus einem Konzentrationslager geflohen. Und jetzt sitze ich hier als Reporter – und die Top-Nazis da drüben, keine acht Meter von mir entfernt.“ Dirk Eisfeld hat das Drehbuch geschrieben für „Nürnberg 45“. Er betont: „Ein junger Mann, der mit 15 von seinem Zuhause deportiert wird, unzählige Arbeitslager durchläuft, dann in Auschwitz landet und mit 22 schließlich als Reporter mit gerade mal einem Vierteljahr Berufserfahrung auf der Reportertribüne der Nürnberger Prozesse sitzt. Allein schon diese Geschichte ist unfassbar.“
Warum?
Warum tut sich ein Holocaust-Überlebender das an, im Gerichtssaal zu sitzen, von Angesicht zu Angesicht mit den Tätern? „Willst du sie hängen sehen?“, heißt es im Film. „Ich will verstehen, warum“, lautet die Antwort. Verstehen, wie ein Land in diesen Rausch des Tötens verfallen konnte, in millionenfaches, industrielles Morden. Der Jude Ernst Michel hat den Holocaust erlebt – und zwar nur, weil er eine schöne Handschrift hatte, mit der er die Totenlisten von Auschwitz schreiben musste. Jetzt sitzt er den Auftraggebern gegenüber, in einem rechtsstaatlichen, fairen Prozess.
Die Nürnberger Prozesse als Geburtsstunde des Völkerstrafrechts
„Von dem ursprünglichen Gedanken Churchills und Stalins, Schauprozesse zu veranstalten und die im Prinzip einfach alle an die Wand zu stellen, hat man Abstand genommen, und hat gesagt: Nein, das Einzige, was wir dieser Barbarei entgegensetzen können, ist die Zivilisation, ist das Recht.“, erklärt Drehbuchautor Eisfeld. „Nicht zu Unrecht gelten die Nürnberger Prozesse heute als die Geburtsstunde des modernen Völkerstrafrechts. Indem man eben nicht Rache übt, indem man nicht Leid mit noch mehr Leid vergilt.“
Göring: „Ich bekenne mich nicht schuldig.“
„Ich bekenne mich im Sinne der Anklage nicht schuldig“, sagte Hermann Göring vor dem Gericht. „Die meisten waren arrogant. Nicht kooperativ. Nicht schuldig”, sagt Ernst Michel 2005 im Interview. Doch der Prozess hat auch Schattenseiten: Nur wenige Opfer wurden als Zeugen gehört. Die Polin Seweryna Szmaglewska hatte als junge Frau zwei Jahre Birkenau überlebt und war nach Nürnberg gekommen, weil sie ihre Geschichte erzählen wollte. Aber sie durfte erst nach quälend langer Wartezeit aussagen – eine weitere Tortur.
Akten und Dokumente wurden Zeugen, wurden Menschen vorgezogen
Die Ankläger setzten lieber auf Dokumente und Akten. Dirk Eisfeld sagt: „Zeugenaussagen kann man als subjektiv diskreditieren, ein Beweisstück ist ein Beweisstück. Das hat dazu geführt, dass Zeugen allenfalls zur Ergänzung gehört wurden. Und von den 139 Zeugen, die in Nürnberg gehört wurden, waren auch nur drei wirklich KZ-Überlebende Holocaust-Opfer. Für die Opfer waren die Nürnberger Prozesse im Grunde eine riesige Enttäuschung.“
Aufklärung und Bildung gegen Geschichtsverfälschung
Das ARD-Doku-Drama „Nürnberg 45“ erzählt emotional, auch von den Traumata der Beteiligten. Er zeigt die Sicht der Opfer statt um Zahlen zu kreisen. Menschlich statt belehrend. Ein Film, der auch Unerreichbare ansprechen will. „Aus heutiger Sicht“, so Eisfeld, „ist es eigentlich erschütternd, dass ein Drittel der Deutschen mittlerweile findet, dass der Nationalsozialismus eigentlich zu negativ dargestellt wird, weil die Zeit ja durchaus auch etwas Gutes gehabt hätte. Also wir sehen da einen so eklatanten Mangel an Bildung, an Wissen, der dann wiederum ein Einfallstor ist für all diejenigen, die ganz bewusst Geschichtsverfälschung betreiben.“ Umso wichtiger ist dieser Film – am 9. November im Ersten und in der ARD-Mediathek. Außerdem erzählt ein vierteiliger Podcast die Geschichte der Polin Seweryna Szmaglewska: „Seweryna und die unsichtbaren Nazis“ (von Sophie Rebmann und Nora Hespers), ab 19. November in der ARD Audiothek.
(Beitrag: Thorsten Mack)
Stand: 02.11.2025 19:37 Uhr