Gerade einmal 80 Quadratkilometer groß war Hitlers unmittelbares Herrschaftsgebiet, als am 23. April 1945 die Berliner Innenstadt zum Kampfgebiet wurde. Hunderttausende deutsche Soldaten und ähnlich viele Zivilisten erwarteten das Ende. Es kam mit einer ungeheuren Feuerwalze.

Die Entscheidung war konsequent: Um zwölf Uhr mittags am 23. April 1945 wurde Berlins Innenstadt offiziell gesperrt. „Die Wache an der Potsdamer Brücke lässt die Leute aus den inneren Stadtteilen hinausschlüpfen, aber keiner darf hinein“, hielt der Journalist Theo Findahl fest: „Einige sagen, die Russen stünden jetzt nur noch zweieinhalb Kilometer vom Alexanderplatz entfernt, dreieinhalb Kilometer von den Linden.“ Der Norweger kannte sich aus – er lebte und arbeitete seit 1939 als Korrespondent für die größte Osloer Zeitung „Aftenposten“ in der Reichshauptstadt.

Jetzt entschied sich Findahl, das Stadtzentrum doch zu verlassen und nach Dahlem zu flüchten: „Es muss doch vernünftiger sein, in einer Gartenstadt zu wohnen als zwischen den hohen Mietskasernen und Ruinen im Häusermeer.“ Eine Viertelstunde später brach der Norweger mit drei Freunden zu seiner letzten Autofahrt durch das nationalsozialistische Berlin auf: „Wir sind zu spät unterwegs. Die Hauptstraßen sind mit Barrikaden versperrt, und der Wagen muss sich auf den wunderlichsten Umwegen vorwärts winden.“

Die vier Männer waren heilfroh, als sie ankamen: „Schiffbrüchige können nicht glücklicher sein, eine selige grüne Insel zu erreichen, als wir, da wir eine Weile später in dem blühenden, lenzfrischen Garten sitzen, der nach all dem Kanonengedröhn drinnen in der grauen Innenstadt doppelt friedlich und schön wirkt.“

Jetzt konnten sie nachdenken über die Fülle der Gerüchte, die durch Berlin schwirrten. Adolf Hitler habe das Kommando über seine Hauptstadt selbst übernommen, hieß es zum Beispiel – aber niemand konnte sagen, wo genau er sich aufhielt? Vielleicht im Keller unter der Reichskanzlei, spekulierte Findahl, vielleicht in dem großen Bunker am Zoologischen Garten. Vom Führerbunker im Garten hinter der Reichskanzlei in der Wilhelmstraße (streng genommen hinter dem Erweiterungsbau des Auswärtigen Amtes) wusste er nichts.

Im Morgengrauen des 16. April 1945 hatten zweieinhalb Millionen Rotarmisten an der Oder den Sturm auf die Reichshauptstadt begonnen. Nach drei Tagen Kämpfen brach auf den Seelower Höhen die letzte deutsche Frontlinie zusammen. Nun umfassten starke und schnelle sowjetische Truppen die Reichshauptstadt nördlich und südlich, während die Hauptmacht der Roten Armee auf kürzestem Weg gegen die östlichen Stadtbezirke vorrückte.

Am 20. April, zufällig Hitlers 56. Geburtstag, nahmen sowjetische Artillerie das Regierungsviertel unter Feuer, am folgenden Tag erreichten die ersten Panzer die Stadtgrenze – ob allerdings wirklich an der Landsberger Allee Nr. 563, wie es die spätere SED-Propaganda behauptete, ist zumindest unklar. Bezirk für Bezirk wurde nun erobert, aus allen vier Himmelsrichtungen: Hohenschönhausen am 23. April, Reinickendorf und Spandau einen Tag später, am 25. April Zehlendorf.

In Pankow erlebte Siegmund Weltlinger den Einmarsch der Roten Armee. Seit zwei Jahren versteckten sich seine Frau und er in der Zweizimmerwohnung von Bekannten, weil das NS-Regime sie als Juden hatte deportieren wollen. Diese Gefahr war nun vorbei. In der Kolonie Dreieinigkeit in Lichtenberg hielt Hans Rosenthal die Zeit für gekommen, sein Versteck (eine primitive Laube) zu verlassen – nach sogar 25 Monaten. Doch als junger Mann wäre er fast im letzten Moment noch von Rotarmisten erschossen worden, weil sie ihn für einen deutschen Soldaten hielten, der sich aus dem Staub machen wolle.

Hitlers unmittelbares Herrschaftsgebiet, das nur drei Jahre zuvor vom Atlantik an die Wolga und vom Polarkreis zum Nordrand der Sahara gereicht hatte, bestand am Morgen des 27. April 1945 nur noch aus einem Zehntel des Berliner Stadtgebiets (die übrigens von der Wehrmacht noch besetzten Gebiete zählten nicht). Dennoch lebten mehrere hunderttausend Menschen auf den knapp 80 Quadratkilometern vorwiegend innerhalb des S-Bahn-Ringes. Hinzu kamen ähnlich viele Soldaten, vorwiegend erschöpft und völlig ungenügend ausgerüstet.

Die meisten von ihnen saßen in Bunkern oder Luftschutzkellern, viele verkrochen sich auch in den nicht mehr befahrenen Tunneln der U- oder S-Bahn. Alle hofften, dass die sowjetischen Granaten sie nicht noch in den letzten Tagen des Krieges treffen würden. Der 15-jährige Günter Lamprecht, seine Mutter und seine Schwester gehörten zu ihnen. Er half den Sanitätern des Hauptverbandsplatzes im Bunkergeschoss der Reichsbank an der Kurstraße: „Alle Räume und Gänge sind belegt und verstopft mit Schwerverwundeten, mit Sterbenden. Das unaufhörliche Trommelfeuer und die Bombardements der letzten acht Tage, das widerliche Sausen der Stalinorgeln richtete sich jetzt nur noch auf den Kern, Berlin-Mitte“, erinnerte er sich.

Von Stunde zu Stunde rückten die Panzer der Roten Armee weiter vor, eroberten eine Straße nach der anderen. An großen Kreuzungen und vor allem an den Brücken über die Spree und den Landwehrkanal sowie an den Dämmen von Bahnanlagen konzentrierten sich die Kämpfe. Für die deutschen Soldaten gab es nur noch die Alternative Gefangenschaft oder Tod – was im Bewusstsein der meisten auf das Gleiche hinauslief.

Verzweifelt wollten viele, vor allem Männer der Waffen-SS, nur noch so viele Sowjetsoldaten wie möglich umbringen, bevor sie selbst starben. Der Spittelmarkt südwestlich des Alexanderplatzes war durch massive Panzersperren blockiert. Zerstörte T-34 vor diesem Hindernis bremsten das Durchkommen sowjetischer Infanterie über die breite Leipziger weiter zur Wilhelmstraße, wo die Reichskanzlei lag.

Von der anderen Seite kämpften sich Einheiten der Roten Armee auf das Stadtzentrum zu. In Spandau hatten sie den Übergang über die Havel erzwungen, waren dann entlang der Heerstraße nach Osten vorgestoßen, hatten das von Hitlerjungs verzweifelt verteidigte Reichssportfeld hinter sich gelassen und durch den Tiergarten den Spreebogen mit dem Reichstagsgebäude erreicht. Am 29. April 1945 begannen sie den Sturmangriff auf den nach der Brandstiftung durch Marinus van der Lubbe 1933 zwar renovierte, aber nur teilweise genutzten Bau. Doch blieben die Rotarmisten rasch im Feuer der verzweifelten Verteidiger stecken – obwohl die Artillerie der sowjetischen 3. Stoßarmee das ehemalige Parlament seit Tagen mit hunderttausenden Granaten aller Kaliber eigentlich sturmreif geschossen hatte.

Im Führerbunker hatte Hitler am 22. April erkannt, dass es keinen „Endsieg“ mehr geben würde. Endlich begann er, seine persönlichen Mitarbeiterinnen wegzuschicken; bis auf zwei Sekretärinnen fügten sie sich. Am 25. April setzte der „Führer“ noch seinen bisherigen formalen Stellvertreter Hermann Göring ab, am 27. April auch SS-Chef Heinrich Himmler, der einen Separatfrieden mit den Westmächten angestrebt hatte (und eine Amnestie für sich persönlich).

Die letzte wichtige Nachricht, die den Führerbunker von außerhalb Berlins erreichte, war am 28. April 1945 ein weiterer Tiefschlag: Hitlers Verbündeter Benito Mussolini war auf der Flucht in Norditalien von Partisanen aufgegriffen, in einem Dorf bei Como erschossen und in Mailand an den Füßen kopfüber am Dach einer Tankstelle aufgehängt worden. Hitler reagierte darauf mit der Ankündigung des eigenen Selbstmords: „Ich will dem Feind weder tot noch lebendig in die Hand fallen. Nach meinem Ende soll mein Körper verbrannt werden und so für immer unentdeckt bleiben.“

Sven Felix Kellerhoff ist Leitender Redakteur bei WELTGeschichte und hat über die deutsche Hauptstadt zwischen 1939 und 1945 mehrere Bücher veröffentlicht, darunter „Berlin im Krieg“ (2010) und „Hitlers Ende im Führerbunker“ (2018).