Das Frühstück ist kaum vorbei – und schon kreisen die Gedanken um das nächste Essen. Was gibt es zu Mittag? War das Müsli zu süß, das Brot zu viel? Selbst abends, im Bett, geht das Kopfkino weiter, wenn man den nächsten Tag gedanklich durchplant: Was darf ich essen, was lieber nicht? Dieses ständige Grübeln heißt Food Noise – ein inneres Rauschen, das den Alltag leise, aber beharrlich bestimmt.

Immer mehr Menschen berichten, dass sie kaum abschalten können, weil ihr Denken ununterbrochen um Mahlzeiten, Kalorien oder Regeln kreist. Warum das so ist und wie man das Gedankenkarussell stoppt, erklärt Dr. Suzana Stojiljkovic, Psychotherapeutin und Chief of Mental Health bei Oviva, einem digitalen Programm für Ernährungstherapie.

ELLE.de: Frau Dr. Stojiljkovic, viele Menschen erkennen sich in dem Begriff Food Noise wieder, wissen aber gar nicht genau, was gemeint ist. Wie definieren Sie das Phänomen?

Dr. Suzana Stojiljkovic: Food Noise beschreibt anhaltende, aufdringliche Gedanken an Essen, die über normale Überlegungen hinausgehen und als belastend empfunden werden. Es ist ein ständiges „Gedankenrauschen“, das sich schwer kontrollieren lässt – ähnlich wie Grübeln. Eine Patientin sagte einmal: „Ich denke 80 Prozent der Zeit an Essen – nicht, weil ich hungrig bin, sondern weil ich ständig überlege, ob ich alles richtig mache.“

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Woran erkennt man, dass es sich nicht mehr um normales Interesse an Ernährung handelt, sondern um ein Problem?

S. S.: Food Noise unterscheidet sich von gesundem Appetit oder bewusster Ernährung durch seine Intensität und Dauer. Die Gedanken werden als laut, unkontrollierbar und ermüdend erlebt. Besonders belastend ist, wenn Scham, Frust oder Selbstvorwürfe hinzukommen – das Gefühl, die eigenen Gedanken nicht mehr im Griff zu haben. Dann ist Food Noise nicht mehr bloßes Ernährungsinteresse, sondern ein psychisches Phänomen, das Aufmerksamkeit verdient.

Was löst dieses ständige Kreisen um Essen aus – passiert das im Kopf oder im Körper?

S. S.: Beides. Psychologisch ist Food Noise eng verwandt mit Grübeln: Je stärker jemand versucht, Essen zu kontrollieren, desto mehr Raum nimmt es gedanklich ein. Neurobiologisch spielen das Belohnungs- und das Stresssystem des Gehirns eine Rolle. Wenn etwa durch Diäten oder Schlafmangel die Balance gestört ist, reagiert das Gehirn überempfindlich auf Essensreize. Auch Hormone wie Ghrelin und Leptin geraten aus dem Gleichgewicht, was das Denken an Nahrung verstärkt.

Das heißt, Food Noise ist auch ein biologisches Phänomen?

S. S.: Ja, und das zeigen sogar GLP-1-Medikamente wie Ozempic: Viele Betroffene berichten, dass das Gedankenrauschen um Essen während der Behandlung leiser wird, weil das Medikament auf Appetit- und Belohnungszentren wirkt. Doch dieser Effekt hält nur an, solange man es nimmt – die zugrunde liegenden Denkmuster bleiben. Deshalb braucht es immer auch psychologische Ansätze.

Welche Rolle spielt unser Lebensstil dabei – Stress, Schlafmangel, Social Media?

S. S.: Eine sehr große. Dauerstress hält das Gehirn im Alarmmodus, das Stresshormon Cortisol steigt, und Essen erscheint als schnelle Belohnung. Schlafmangel verändert wiederum Hunger- und Sättigungshormone, was den Appetit steigert. Hinzu kommt die ständige Reizüberflutung – Essen ist überall präsent. Soziale Medien verstärken das zusätzlich: „What I Eat in a Day“-Posts aktivieren im Gehirn dieselben Bahnen wie reale Essensreize.

Also hat Food Noise auch viel mit unserer digitalen Umgebung zu tun?

S. S.:  Absolut. Social Media erzeugt eine Art Dauerpräsenz von Nahrung – man wird ständig an Essen erinnert. Wenn dann noch gesellschaftliche Ideale oder Diättrends dazukommen, entsteht ein innerer Bewertungsdruck. Das kann Food Noise massiv verstärken.

Wie zeigt sich Food Noise im Alltag – gibt es unterschiedliche Typen?

S. S.: Ja, das Spektrum ist breit. Manche zählen Kalorien obsessiv, andere hinterfragen jede Mahlzeit unter dem Aspekt „Clean Eating“. Einige erleben es eher kognitiv – als unaufhörliches Denken über Nährwerte oder Portionsgrößen. Andere empfinden vor allem emotionale Belastung durch Schuldgefühle oder Scham. Entscheidend ist weniger der Inhalt, sondern ob die Gedanken als störend und unkontrollierbar erlebt werden.

Wie kann man selbst erkennen, dass man betroffen ist?

S. S.: Wenn das Denken an Essen ungewollt und belastend ist, spricht vieles für Food Noise. Wer einfach diszipliniert isst, denkt gezielt über Mahlzeiten nach. Bei Food Noise drängen sich die Gedanken auf – auch ohne Hunger – und beeinträchtigen Konzentration und Lebensqualität.

Food Noise: Was tun, wenn die Gedanken nur ums Essen kreisen?

Foto: PR

Als Psychotherapeutin und Chief of Mental Health bei Oviva beschäftigt sich Dr. Suzana Stojiljkovic mit den Gedanken, die unser Essverhalten steuern.

Was hilft, um das Gedankenkarussell zu stoppen – ohne Medikamente?

S. S.: Der erste Schritt ist Bewusstwerden: wahrnehmen, wann und warum die Gedanken auftauchen. Strukturierte Mahlzeiten helfen, den inneren Alarm zu beruhigen. Dauerndes Kalorienzählen oder restriktive Diäten verschärfen das Problem nur. Ebenso wichtig sind Achtsamkeit und Selbstmitgefühl – also die Gedanken beobachten, ohne sie zu bewerten. Bewegung, Entspannung oder Atemübungen können helfen, den Kopf zu entlasten.

Das klingt einfacher gesagt als getan. Wie gelingt das konkret?

S. S.: Oft hilft schon Routine: feste Mahlzeiten, Pausen, ausreichend Schlaf. Auch kleine Veränderungen – etwa nicht ständig Essensinhalte zu konsumieren – können spürbar entlasten. Food Noise ist kein persönliches Versagen, sondern eine Reaktion des Gehirns auf Reize. In der Therapie arbeiten wir daran, diese Reaktionen zu verstehen und Schritt für Schritt zu verändern.

Welche Rolle spielt Achtsamkeit oder intuitive Ernährung dabei?

S. S.: Eine große. Sie stärkt den Kontakt zu echten Körpersignalen. Wer bewusst und ohne Bewertung isst, kann Food Noise reduzieren. Wichtig ist, dass Achtsamkeit nicht zur neuen Regel wird – sie soll Freiheit schaffen, nicht Kontrolle. Man merkt, dass sie wirkt, wenn Essen wieder genussvoll und flexibel möglich ist.

Und wenn man merkt, dass es allein nicht besser wird – wann sollte man Hilfe suchen?

S. S.: Wenn die Gedanken dauerhaft die Stimmung, den Schlaf oder das Sozialleben beeinflussen. Hilfe zu suchen, ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Stärke. Gespräche mit Ernährungspsycholog*innen oder Psychotherapeut*innen können schon früh helfen, Zusammenhänge zu erkennen. Viele merken dann: Sobald sie sich nicht mehr allein damit fühlen, wird das Rauschen im Kopf leiser.