Wäre es nach anderen Ärzten in einer anderen Klinik gegangen, dann wäre ihr Baby heute nicht auf der Welt. In der Schwangerschaft stellten die Ärzte bei Ann-Kathrin Kück in einem norddeutschen Krankenhaus fest, dass ihr Kind einen schweren Herzfehler haben wird. Sie nahmen im Mutterleib einen Eingriff vor – der schief ging. Die Ärzte dort erklärten das Kind für tot. Kück zögerte jedoch, die Abtreibungspille zu nehmen, auch weil die Ärzte in einer Klinik in Schleswig-Holstein meinten, es seien noch Herztöne da. Allerdings rechneten sie dem Kind keine allzu großen Chancen aus.
Ann-Kathrin Kück wollte ihr Baby aber nicht aufgeben. Sie suchte selbst nach Experten, stieß zuerst auf einen Professor in Mannheim. Der wiederum schickte sie nach Stuttgart ans Olgahospital zum Zentrum für angeborene Herzfehler. Gunter Kerst, der dortige ärztliche Direktor, habe sich sofort bereit erklärt, die Operation zu übernehmen. Was sie ihm immer hochanrechnen würde, dass er nach der Operation bis nachts bei Fiete geblieben wäre. „Das vergesse ich nie“, sagt die Mutter.
Extra aus Norddeutschland ins Olgäle
Kücks Gefühl hat sie nicht getrogen. Heute, fünf Monate später sitzt sie an einem Donnerstagvormittag auf der Intensivstation für Kinder, gibt ihrem Fiete sein Fläschchen und er trinkt fleißig. Ein paar Kilo habe er schon wieder zugenommen in den letzten Wochen, sagt die Mutter. „Und es geht ihm viel besser.“
In seinem kurzen Leben hat Fiete schon einige Operationen über sich ergehen lassen müssen. „Aber er hat nun deutlich bessere Lebenschancen“, sagt sie. Ihren Weg dorthin beschreibt die Mutter als „traumatisch“ – auch weil sie nicht sofort die passende Hilfe gefunden hatten.
Für die Familie bedeutet es einen großen Aufwand, dass die behandelten Ärzte von Fiete am anderen Ende der Republik sind. Auch Kücks Ehemann und die fünfjährige Tochter sind immer mit in Stuttgart dabei – Fiete durfte nur zwischendurch für ein paar Wochen nach Hause. „Dazwischen waren wir in einer Klinik bei uns, aber das hätten wir uns sparen können“, sagt Kück. Sie sei mit „Herr Kerst super happy“.
Auch das Umfeld stimmt für sie. Im Blauen Haus des Fördervereins für Krebskranke Kinder Stuttgart wohnt die Familie während der Krankenhausaufenthalte ihres Kleinsten. Sie und ihr Mann wechseln sich damit ab, wer bei Fiete am Bettchen sitzt, der andere ist oben in der vorübergehenden Bleibe bei der Tochter.
Noch vor einigen Jahren mussten Kinder allein im Krankenhaus bleiben, Eltern durften zu den Besuchszeiten da sein. Viele Krankenhäuser sind inzwischen moderner geworden und beziehen die ganze Familie in den Genesungsprozess in der Klinik mit ein. Das Olgahospital hat dafür das Zertifikat „familienfreundliches Krankenhaus“ bekommen – weil die Eltern nun permanent bei ihren Kindern übernachten dürfen. „Sogar auf unserer Kinderintensivstation können Eltern bei ihrem Kind im Zimmer übernachten“, sagt Annette Seifert, Sprecherin des Klinikums Stuttgart. „Die 24-stündige Anwesenheit ist ein Gewinn für Eltern, Kinder und das Personal.“
Langer Klinik-Aufenthalt kann traumatisch sein
Ein Krankenhausaufenthalt, ob geplant oder als Notfall, setzt Eltern und Kinder unter Stress. Vor allem für sehr kleine Kinder kann es auch sehr belastend oder sogar traumatisch sein, wenn sie allein in der Klinik bleiben müssen.
„Wenn die Eltern immer mit dabei sind, können körperliche, kognitive und psychische Symptome, wie zum Beispiel Ängste, Depressionen oder posttraumatische Belastungsstörungen bei langen Aufenthalten bei den Kindern und den Eltern verringert werden“, sagt Carina Hirth, die pflegerische Stationsleiterin der Kinderintensivstation. Die Gefahr eines Post-Intensive-Care-Syndrom (PICS) oder des PICS-Family – die mögliche Langzeitfolgen einer Behandlung auf der Intensivstation bezeichnet – könne aus ihrer Erfahrung deutlich verringert werden. Dazu gebe es auf der Station Appartements für die Eltern, aber es sei auch möglich, dass sie bei den Kindern im Zimmer schlafen können. Für die Eltern gebe es auch Aufenthaltsräume und eine Teeküche, einen Rückzugsraum, ebenso wie Seelsorger und Psychologen. „Wir wollen auch bald ein Tagebuch-Projekt einführen“, sagt Hirth. Es helfe nachweislich, sich in der Situation die Dinge von der Seele zu schreiben.
Constanze Bräuning (39) ist an jenem Donnerstagvormittag nur noch auf Besuch im Olgäle. Vor einigen Jahren, kurz vor der Coronapandemie, war sie allerdings mit ihrem Sohn auch mehrere Wochen Dauergast in der Klinik. „Unser Familienleben haben wir ins Olgäle verlegt“, sagt die Mutter von drei Kindern.
Ihr Sohn Lukas kam im September 2018, kurz vor seinem vierten Geburtstag aufgrund einer Gehirnentzündung ins Krankenhaus. „Und da sind wir quasi gekommen, um zu bleiben“, sagt Breuning. Ein Nebeneffekt seiner chronischen Krankheit waren permanente epileptische Anfälle. Zeitweise hatte Lukas alle zwei bis drei Minuten einen neuen Anfall, manchmal bis zu 100 am Tag.
Breuning war kurz davor zum zweiten Mal Mutter geworden. „Unser mittleres Kind ist hier aufgewachsen“, sagt sie. Es hat lange gedauert, bis die Medikamente bei Lukas so eingestellt waren, dass die Anfälle nicht mehr auftraten. Mit einem zu stillenden Neugeborenen und einem schwer kranken Kind hatte Bräuning kaum Kapazitäten für etwas anderes. Daher sei sie dankbar, dass alle sie im Klinikum so unterstützt hätten: Die Pfleger, die Erzieherinnen und die Sozialarbeiterin, die ihr alle Anträge unterschriftenreif ausgearbeitet hatte. „Das hat mir viel abgenommen“, sagt sie. „Es wurde alles gemacht, dass wir unseren Alltag einigermaßen leben konnten.“
Früher waren Kinder wochenlang allein im Krankenhaus
Chantal Pajda, stellvertretende Stationsleiterin auf der Neuropädiatrie, findet, dass sich die Situation insgesamt immens verbessert hat zu früheren Zeiten, als Kinder oft wochenlang allein im Krankenhaus bleiben mussten. „Heute können wir sie viel besser begleiten.“ Viele Angebote für die Eltern würden über die kliniknahen Stiftungen und Förderkreise finanziert. Die Olgäle-Stiftung hat in den letzten Jahren rund 38 Millionen Euro für familienfreundliche Angebote gespendet, wie eine Bibliothek oder die Clowns für die Kinder.
Für Kinder bis neun Jahre finanzieren die Krankenkassen den Aufenthalt der Eltern. Wenn es eine medizinische Indikation gibt, dürfen die Eltern auch bei älteren Kindern dabei sein, sagt Pajda. Für die Kinder, aber auch für die Eltern sei dies ein wichtiges Angebot. „Es ist auch für die Eltern eine große Herausforderung, wenn sie nicht ständig bei ihrem kranken Kind sein können.“
Für Ann-Kathrin Kück und ihren Mann wäre es gar nicht anders möglich gewesen. Ihr Kind allein ein paar hundert Kilometer von zu Hause allein im Krankenhaus lassen? Oder den Mann und die große Tochter über Wochen nicht sehen? Undenkbar für die Familie.
Und für Fiete ist es auch wichtig, dass er sein Schwesterchen um sich hat. Wenn er in den OP muss, begleitet sie ihn immer bis zur Schleuse – und wartet dann mit ihren Eltern bis er wieder zurückkommt, erzählt die Mutter.
Psychische Folgen nach Klinikaufenthalt oft unterschätzt
Studie
Eine im Journal of Pediatrics im Jahr 2018 veröffentlichte amerikanische Studie zeigt: Verletzen sich Kinder, sodass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen, bedeutet dies Stress für die ganze Familie. Die Studie des Nationwide Children’s Hospital in Columbus, Ohio, untersuchte die seelische Verfassung und das Verhalten von Kindern, nachdem sie wegen einer Verletzung im Krankenhaus versorgt werden mussten. Von den Kinder von null bis 18 Jahren, die von Juni 2005 bis Mai 2015 wegen eines Unfalls ins Krankenhaus eingeliefert wurden,und wegen einer Verletzung betreut wurden, stiegen die Diagnosen von psychischen Problemen um durchschnittlich 63 Prozent. Auch die Medikamentenverordnungen zur Behandlung von psychischen Erkrankungen nahmen bei diesen jungen Patienten um 155 Prozent zu.
Fazit
Es sei zu erwarten, dass Kinder, die wegen einer Verletzung ins Krankenhaus müssen, ein gewisses Maß an Stress und Unbehagen verspüren, erklärte Julie Leonard, die stellvertretende Direktorin des Zentrums für Kindertraumaforschung und Hauptautorin der Studie. Die erhobenen Krankendaten zeigten aber, dass bei Kindern nach ihrer Heimkehr oft sogar ernste psychische Probleme auftreten. Daher müssten Gesundheitsdienstleister besser auf die die psychische Gesundheit achten und Kinder mit einem hohem Risiko schneller identifizieren und sie an Experten weiterleiten – bevor sie nach Hause geschickt werden. (nay)