Jahrzehntelang wurde er unterschätzt. Bestenfalls galt er als originelle Figur. Nun führt Nigel Farage mit seiner Partei Reform UK die Umfragen an. Der Rechtspopulist hat beste Chancen, nächster Premierminister zu werden.

Nigel Farage raucht 2024 demonstrativ eine Zigarette vor einem Pub in London um ein Zeichen zu setzen gegen die damaligen Pläne der Labour-Regierung, das Rauchen an öffentlichen Orten weiter einzuschränken.Nigel Farage raucht 2024 demonstrativ eine Zigarette vor einem Pub in London um ein Zeichen zu setzen gegen die damaligen Pläne der Labour-Regierung, das Rauchen an öffentlichen Orten weiter einzuschränken.

Carl Court / Getty

Nigel Farage ist ein Mensch voller Widersprüche. Er wirkt jovial, gutgelaunt und immer zu einem Spässchen aufgelegt, zugleich beschwört er die Apokalypse herauf. Wenn es nach ihm geht, befindet sich Grossbritannien höchstens noch einen Millimeter vom Abgrund entfernt. Auf Bildern hat er oft ein Pint Bier in der Hand, er gibt sich als «einfacher Mann aus dem Volk», stammt aber aus gutem Hause und ist Millionär.

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Gerne präsentiert er sich als rechte Stimme der Vernunft, als einzige Rettung vor den Rechtsradikalen. Im Sommer, als in Grossbritannien regelmässig gegen Immigration demonstriert wurde, sagte er: «Erinnert euch, ich bin das moderate, vernünftige, demokratische, erfahrene, erwachsene Gesicht des Kampfes. Wenn ich verliere, wartet bloss . . .» Gleichzeitig befeuert er mit seinen eigenen Voten permanent die Empörung gegen Ausländer und gegen die britische Elite.

Offenbar verstand sich Farage schon früh auf das Doppelspiel und die Kunst, sich nicht festlegen zu lassen. In den frühen 1980er Jahren randalierten immer wieder Rechtsextreme in Grossbritannien, während Farage das exklusive Dulwich College in Südlondon besuchte. Eines Tages kritzelte er «NF» an die Wandtafel, die Abkürzung für «National Front», die damals führende neofaschistische Gruppierung im Land. Aber er konnte sich aus der Affäre ziehen, indem er behauptete, es handle sich lediglich um seine eigenen Initialen.

Sohn eines Börsenmaklers

Geboren wurde Farage 1964 als Sohn eines Börsenmaklers. Der Vater war Alkoholiker und verliess die Familie, als Nigel fünf Jahre alt war. Von 11 bis 18 Jahren besuchte er ein privates Internat. Bereits während seiner Schulzeit wurde er Mitglied der Konservativen Partei. Nach seinem Abschluss trat er ebenfalls in den Börsenhandel ein.

1992, als der damalige Premierminister John Major die Maastrichter Verträge der EU unterzeichnete, sagte Farage den Tories ade. Er war Mitbegründer der Ukip-Partei, deren Vorsteher er 2006 wurde. Von 1999 bis 2020 sass der EU-Gegner im Europaparlament. Für einen Skandal sorgte er dort im Jahr 2010, als er wilde Behauptungen über den damaligen EU-Rats-Präsidenten Herman Van Rompuy anstellte. Es sei dubios, wie der «bis anhin politisch völlig unbekannte» Van Rompuy zu seinem Amt gekommen sei, sagte Farage. Was absurd war, da Van Rompuy bis zum Jahr davor belgischer Premierminister gewesen war. Zudem bezeichnete Farage Belgien als «Nicht-Land» und attestierte Van Rompuy das «Charisma eines feuchten Lappens mit dem Erscheinungsbild eines untergeordneten Bankangestellten». Er musste eine Busse von 3000 Euro zahlen und entschuldigte sich gegenüber allen Bankangestellten.

An der Parteikonferenz der Reform UK in Birmingham im September inszeniert sich Farage wie ein Pop-Star.An der Parteikonferenz der Reform UK in Birmingham im September inszeniert sich Farage wie ein Pop-Star.

Rasid Necati Aslim / Imago

Der grösste Triumph

Dass die Briten 2016 für den Ausstieg aus der EU stimmten, ist stark auf Farages Wirken zurückzuführen. Es wurde sein grösster Triumph. Aber zugleich fehlte ihm nach dem Brexit-Vollzug im Jahr 2020 auf einmal sein grosses Thema. 2024 jedoch wagte er ein Comeback und gewann zum ersten Mal einen Sitz im Unterhaus. Heute kommt seine Reform UK, die Nachfolgepartei der Ukip, bei Umfragen auf 31 Prozent, Labour auf 21 und die Tories auf rund 17 Prozent. Das heisst, wenn sich nicht etwas Grundlegendes ändert, wird sie die nächsten Wahlen gewinnen, und Farage wird Premierminister.

Einer, der Farage seit über 25 Jahren kennt, ist Stuart Agnew. Zehn Jahre lang sass er mit ihm im EU-Parlament. «Nigel ist ungeheuer entschlossen und zielfokussiert», sagt er im Gespräch. «Er sah schon früh die Schwächen des politischen Systems – das Zusammenwachsen der beiden grossen Parteien zu einem elitären Zentrumsblock, von dem sich viele Briten nicht mehr repräsentiert fühlten.» Aber es brauchte, so Agnew, zuerst das Desaster mit Boris Johnson und nun den unbeliebten Keir Starmer, bis sich Farages Analyse bewahrheitete.

Das Besondere an Farage sei, so Agnew, dass er sowohl mit den «smarten Leuten in der City» wie auch mit den «Biertrinkern in einem Männerklub im Norden» in Beziehung treten könne. Vor allem sei er aber einfach nicht unterzukriegen. «All die Jahre mokierten sich die Leute über ihn», sagt Agnew. «Aber er machte einfach weiter.» Dazu passe, dass er unterschätzt werde. «Er hat detailliertes Wissen über jedes einzelne Land in Europa», sagt er. Anfangs sei er kein guter Redner gewesen, aber von Jahr zu Jahr sei er besser geworden. «Und jetzt hat er so viel Erfahrung, dass er bereit wäre für das höchste Amt.»

Stuart Agnew.Persönliche Veränderung nach Flugzeugabsturz

Agnew erwähnt den Absturz von 2010. Farage sass neben dem Piloten in einem Kleinflugzeug, das ein Banner mit dem Slogan «Wähle dein Land – wähle Ukip» durch die Lüfte zog. Aber das Banner verwickelte sich im Heckruder, und die Maschine stürzte in einen Acker. Der Pilot war schwer verletzt, Farage trug nur ein paar Schrammen davon. Die Episode wird oft erzählt als Beispiel für seine Unverwüstlichkeit. Aber Agnew sagt, Farage sei seither nicht mehr der Gleiche. «Früher, da stand er nach unseren Veranstaltungen bis um vier Uhr morgens an der Bar, rauchte, trank, riss Witze mit jedem, immer bestens gelaunt. Jeder mochte ihn. Am nächsten Tag erschien er pünktlich, nach zwei, drei Stunden Schlaf, zur Arbeit.»

So wild sei er heute nicht mehr. Farage selbst sagt, nach der Bruchlandung sei es ihm noch gleichgültiger als vorher, was andere über ihn dächten: «Ich bin ein Fatalist.»

Verheiratet ist der britische Patriot mit einer Deutschen. Inzwischen lebt das Paar aber getrennt voneinander, ihre beiden Kinder haben sowohl die britische wie die deutsche Staatsbürgerschaft. «Wir haben Geschlechtsverkehr für Europa», sagte er einmal in seiner unverkennbaren Art über seine Ehe.

Der Trump-Imitator

Erstaunlich für den Politiker, der so sehr auf die Selbstbestimmung der Briten pocht, ist eine Bewunderung für Trump, die bis zur Imitation des Idols reicht. Immer wieder verkündet er: «Make Britain great again», ruft nach grossen Razzien gegen illegal eingereiste Immigranten und fordert ihre Massendeportation in Länder wie El Salvador. Auch ein Department für Regierungseffizienz (DOGE) stellt er in Aussicht, und er möchte strengere Regeln gegen Abtreibung. Seine Gegner deckt er wie Trump mit Spitznamen ein, seine Millionen-Gefolgschaft unterhält er in den sozialen Netzwerken täglich mit launigen Sprüchen, auch Kryptowährungen promotet er, sogar eine Meme-Coin mit seinem Namen. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass Trump unter konservativen Briten sehr unbeliebt ist.

Unbestreitbar ist allerdings Farages Talent für Entertainment, das er mit Trump teilt. Während die diesjährige Labour-Parteikonferenz an eine Trauerfeier in einem zugigen Bahnhofwartesaal erinnerte, fühlte man sich beim entsprechenden Treffen von Reform UK wie an einem fröhlichen Pop-Festival. Offensichtlich geniesst Farage den grossen Auftritt und betritt die Bühne mit Lightshow, bombastischer Musik und Pyro-Effekten wie ein Superstar, wenn nicht ein Messias. Dazu passt seine Rhetorik zwischen Apokalypse, Errettung und breitem Grinsen.

Typisch ist auch, dass er sein Comeback Ende 2023 mit einem Auftritt in der Reality-TV-Show «I’m a Celebrity, Get Me Out of Here» einläutete. Im Dschungelcamp legte er sich mit Schlangen in einen Sarg und ass Fischaugen. Entgegen den Vorschriften duschte er nackt. Die Botschaft war wohl: Ich bin einer von euch, habe Sinn für Spass und keine Angst vor Trash. Der sprichwörtliche «jolly good fellow», ein lustiger Kerl.

Nigel Farage kommt in London Heathrow an, nachdem er an der Reality-Show «I’m a Celebrity, Get Me Out of Here» teilgenommen hat.Nigel Farage kommt in London Heathrow an, nachdem er an der Reality-Show «I’m a Celebrity, Get Me Out of Here» teilgenommen hat.

Jonathan Brady / Getty

Während seine Gegner ihn jahrelang nicht ernst nahmen und – ähnlich wie Trump – als Clown abkanzelten, sind sie inzwischen auf ihn fixiert. Denn Farage hat mit der Migration ein neues Thema gefunden, das er erfolgreich bewirtschaftet. Premierminister Keir Starmer verwendete einen grossen Teil seiner Redezeit an der Labour-Parteikonferenz darauf, vor ihm zu warnen. Mittlerweile ist auch die linksliberale «New York Times» beunruhigt und fragt: «Könnte dieser unseriöse, spitzbübische, furchterregende Mann der nächste britische Premierminister sein?» Ja, Farage könnt es sein.