
Vor 75 Jahren wurde in Rom die „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ unterzeichnet. Sie schreibt die Grundrechte in 46 Staaten fest. Doch immer wieder gerät das Instrument unter Druck.
Wenn es um grundsätzliche Rechte geht – das Recht auf Leben, die Meinungsfreiheit oder Persönlichkeitsrechte – dann gibt es die deutschen Grundrechte. Oder ich kann mich auf europäischer Ebene als EU-Bürgerin oder als EU-Bürger auf die EU-Grundrechte berufen. Wozu dann überhaupt noch die Europäische Menschenrechtskonvention?
In Deutschland gibt es bereits einen starken Grundrechtsschutz, sagt Menschenrechtsanwalt Stefan von Raumer, Präsident des Deutschen Anwaltvereins. Aber in den anderen Mitgliedstaaten, zu denen ja auch die Türkei oder Aserbaidschan gehören, sei die Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrecht in Straßburg möglicherweise die einzige Hilfe, „die der Beschwerdeführer noch findet, wenn die Staaten nicht so stark rechtsstaatlich orientiert sind“.
Was ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte?
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg ist kein Organ der Europäischen Union. Hinter dem EGMR steht der Europarat. Dort sind auch Staaten Mitglied, die nicht in der EU sind – beispielsweise die Türkei oder das Vereinigte Königreich. Aus diesem Grund kann der EGMR auch für diese Länder verbindliche Entscheidung treffen. Inhaltlich prüfen die Straßburger Richterinnen und Richter, ob die jeweiligen staatlichen Maßnahmen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar sind.
Üblicherweise ist der Weg zum EGMR erst dann eröffnet, wenn auf nationaler Ebene der Rechtsweg ausgeschöpft ist, also kein Rechtsmittel im Land mehr möglich ist. In besonders eilbedürftigen Fällen kann Straßburg aber auch im Eilverfahren vorläufige Entscheidungen treffen. Zumeist geht es in diesen Fällen inhaltlich um drohende Abschiebungen. In der Vergangenheit waren pro Jahr 100 bis 200 solcher Eilanträge erfolgreich.
Von Christoph Kehlbach und Maximilian Bauer, ARD-Rechtsredaktion
Menschenrechtsschutz von Armenien bis Zypern
Als die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verabschiedet wurde, geschah das noch unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. Das Recht auf Leben und das Folterverbot stehen deshalb ganz am Anfang der EMRK.
Eine Menschenrechtskonvention, auf die sich jeder berufen kann, dessen Rechte vom Staat missachtet werden, eine Menschenrechtskonvention, die im Alltag vieler eine Rolle spielt, wurde die EMRK erst, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gegründet wurde. 1959 war das. Seitdem gibt es einen Menschenrechtsgerichtshof für heute über 600 Millionen Menschen. Alle 46 Staaten des Europarates, von Armenien bis Zypern, können von ihren Bürgern wegen Menschenrechtsverletzungen verklagt werden.
„Und das kümmert die Staaten schon, weil das Investoren abschrecken kann, in so einem Staat zu investieren, in dem die eigenen Rechte – denn auch der Eigentumsschutz ist ein Menschenrecht – nicht so gut geschützt werden“, meint von Raumer. Deshalb kümmere es die Staaten immer, wenn festgestellt wird, die EMRK ist verletzt. „Selbst wenn sie im Einzelfall mal ein Urteil nicht befolgen“, räumt er ein.
Menschenrecht auf Klimaschutz
Immer wieder hat die EMRK dort Grenzen gesetzt, wo Staaten individuelle Rechte verletzten. Oder auch nicht genug schützen. Dabei ist die EMRK längst in der Moderne angekommen. 2024 gab es ein spektakuläres Urteil aus Straßburg in Sachen Klimaschutz. Eine Klage von Seniorinnen aus der Schweiz, die sich selbst Klimaseniorinnen nennen, hatte Erfolg.
Seitdem ist klar: Es gibt in Europa ein Menschenrecht auf Klimaschutz. Klimavereine könnten von ihren Staaten einen besseren Klimaschutz einklagen. Die Klage kann erfolgreich sein, wenn man zum Beispiel als älterer oder chronisch kranker Mensch nachweist, dass man schon jetzt von den Folgen des Klimawandels betroffen ist.
Die EMRK sei ein „living instrument“, so Rechtsanwalt von Raumer. Sie schütze den Bürger in seinen Rechten, und das umfassend, auch gegen modernste staatliche Abhörmaßnahmen oder Beeinträchtigungen durch verändertes Klima. Die Menschenrechtskonvention fordere Staaten auf, ihre Bürger in ihren Rechten zu schützen – auch vor modernen Herausforderungen.
Politischer Druck auf den Gerichtshof
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ist eine feste Größe in der Welt des Schutzes der Menschenrechte. Doch in diesem Jahr wurde die Stellung des Gerichtshofs politisch angegriffen. Neun europäische Staaten, allen voran Italien, Dänemark, Polen und Österreich, haben in einem offenen Brief gefordert, die Arbeit des Gerichtshofs grundsätzlich zu überprüfen. Der EGMR müsse den Nationalstaaten mehr Spielraum lassen, vor allem bei der Abschiebung von Geflüchteten.
Anwalt von Raumer hält das für eine große Gefahr: „Die Mitgliedstaaten des Europarates sind eine Solidargemeinschaft. Sie haben sich solidarisch der EMRK und der Gerichtsbarkeit des EGMR unterworfen.“ Von Raumer nennt ein Beispiel: „Wenn ein deutsches Staatsorgan, das vor dem Bundesverfassungsgericht verurteilt wurde, sagen würde: ‚Wir würden das Grundgesetz gerne anders auslegen, die Auslegung des Bundesverfassungsgerichts gefällt uns nicht‘, dann wäre das wirklich gefährlich, weil die Rechtsachtung nicht mehr da wäre.“
Und diese Gefahr bestehe auch auf der Ebene der Europäischen Menschenrechtskonvention, wenn sich Staaten einfach nicht mehr an die Urteile aus Straßburg halten würden, so der Präsident des Deutschen Anwaltvereins, Raumer.
75 Jahre EMRK sind also für ihn ein Anlass zum Feiern und gleichzeitig eine Mahnung, politische Attacken auf die europäischen Menschenrechte abzuwehren.
