Die Netflix-Dokumentation über den deutschen Rapper Haftbefehl bricht aktuell alle Rekorde. „Babo“ hat noch einen berührenden Nebeneffekt: Die – teils sehr jungen – Rap-Fans feiern plötzlich einen alten Song von Reinhard Mey. Was steckt hinter dem Hype um den Titel „In meinem Garten“?
Deutschrap hat bei vielen Menschen einen sehr schlechten Ruf. Allzu brutal kommen viele Texte daher: Die Künstler rappen von Waffen, Drogen, Gewalt und Kriminalität; Frauen und queere Menschen sind oft Opfer von Spott oder Gewaltfantasien.
Die Netflix-Doku „Babo – Die Haftbefehl-Story“, die in der vergangenen Woche mit ihrem Erscheinen direkt in die Streaming-Charts schoss, ist auf den ersten Blick nicht unbedingt geeignet, diesen Ruf zum Positiven zu verändern. Die Regisseure Sinan Sevinc und Juan Moreno begleiten darin den deutschen Musiker Haftbefehl, der als einflussreichster Rapper Deutschlands gilt, auch WELT hatte berichtet.
Die Macher zeigen die musikalischen Erfolge und die unzweifelhafte künstlerische Begabung des 39-Jährigen, aber auch sein Aufwachsen inmitten der Kriminalität von Offenbachs Straßen, seinen massiven Drogenkonsum und seine psychischen Abgründe.
Kritiker und Publikum zeigten sich teils schockiert von den Einblicken, die die Doku gewährt. Denn zu sehen ist auch, wie Aykut Anhan – so heißt Haftbefehl mit bürgerlichem Namen – sichtlich unter Drogen steht. Eine dieser Szenen wiederum hat nun einen erstaunlichen Nebeneffekt: Sie hat einen (1970 erschienenen) Song von Reinhard Mey wieder in die Streaming-Charts katapultiert.
Alle hören plötzlich einen Song aus dem Jahr 1970
Ausgangspunkt ist eine der wohl eindrücklichsten Szenen aus der Doku, die nun in zahlreichen Kopien in den sozialen Medien wie etwa TikTok kursiert. Zu sehen ist wie Haftbefehl – sichtbar an einem körperlichen und psychischem Tiefpunkt angelangt – aus seinem Smartphone ein Lied ertönen lässt, das ihm offenbar viel bedeutet und das er sogar auswendig mitsingen kann: „In meinem Garten“ von Liedermacher Reinhard Mey. „In meinem Garten, in meinem Garten, blühte blau der Rittersporn“, singt der mittlerweile 39-Jährige dann mit brüchiger Stimme.
1970 erschienen, besingt das Lied unter anderem die Blumen und Tiere im Garten, die trotz der Fürsorge, die das lyrische Ich ihnen widmet, verdorren oder verschwinden. Das Lied, so erkennen es auch viele der teils sehr jungen Hörer auf TikTok – ist letztlich eine Metapher für Einsamkeit und Verlust.
Die Haftbefehl-Doku zeigt auch, wie genau diese Themen das Gastarbeiter-Kind Aykut Anhan sein Leben lang prägten. Seine Kindheit war gezeichnet von einem abwesenden Vater, den er als Kind einmal am Suizid gehindert hatte, bevor der sich dann doch das Leben nahm, als Anhan 14 Jahre alt war. Ein Trauma, das er nie überwunden hat.
Ausgerechnet das zarte, melancholische Stück des 82-jährigen Liedermachers Mey entwickelt sich nun zum Internetphänomen. Auf TikTok oder Instagram posten junge, oft migrantische Haftbefehl-Fans nun Videos von sich, wie sie „In meinem Garten“ hören oder selbst singen.
Beim Musikstreaming-Dienst Spotify landete das Lied in der Liste der meistgestreamten Songs in Deutschland am Montag auf dem 20. Platz – Haftbefehl selbst schafft es aktuell mit sieben Songs in die Top 20.
„Reinhard Mey hat mir geschrieben“, sagt Haftbefehl stolz
Der Hype ist auch Haftbefehl selbst nicht entgangen. Auf seiner Instagram-Seite (über eine Million Follower) gab er bekannt, dass Reinhard Mey die Doku gesehen und sich persönlich bei ihm gemeldet habe.
Der Liedermacher habe, so erzählt er, zunächst gezögert, seinen Song für die Doku zur Verfügung zu stellen, sich aber letztlich überzeugen lassen. Nun habe Mey ihm etwas gegeben, das tiefer gehe als Zustimmung – „eine stille ehrliche Bestätigung: Dass man den Menschen hinter dem Bild, den Künstler hinter den Schlagzeilen, erst wirklich verstehen sollte, bevor man sich ein Urteil erlaubt“.
Dennoch sind natürlich nicht alle überzeugt von der verbindenden Wirkung des Rappers. Das CDU-geführte hessische Kultusministerium stellte sich auf Medienanfragen in der vergangenen Woche gegen eine Forderung des StadtschülerInnenrats in Offenbach. Der wollte Haftbefehl im Unterricht behandeln – als kulturelles Lehrmaterial (auch WELT hatte berichtet).
„Wenn Schule ein Ort der Lebensrealität sein soll, dann darf sie nicht nur Goethe lesen, sondern auch Haftbefehl hören“, so Cengizhan Nas, Vize-Stadtschulsprecher. „Seine Sprache ist roh, aber echt – sie zeigt, wie Jugendliche wirklich sprechen, fühlen und denken. Bildung darf das nicht ignorieren.“ Das hessische Kultusministerium sah das aber anders und erteilte dem Vorschlag mit Blick auf Anhans „Neigung zur Kriminalität“ eine Absage.
krott mit KNA