An diesem Tag ist alles anders im Cafe 72 in Bad Cannstatt. Dort, wo Menschen ohne Wohnsitz die Möglichkeit etwa zum Duschen oder einem Gespräch haben, gibt es heute eine besondere Aktion: Friseure sind da. Sie sind ehrenamtlich tätig. Sie nennen sich Barber Angels, übersetzt Barbier-Engel. Ihre Mission: Menschen helfen, die nicht viel haben, kein Zuhause, keinen Job und kein Geld. Auch der Chef und Gründer, Friseur Claus Niedermeier aus Biberach, ist mit von der Partie und freut sich. Er hatte 2016 die Barber Angels Brotherhood gegründet. Der Verein zählt inzwischen mehr als 800 Mitglieder und ist in neun Ländern im Einsatz.
Sieben Friseure ehrenamtlich im Einsatz
Mit Niedermeier sind sechs andere Barber Angels gekommen, Friseurinnen und Friseuren, um im Café 72 der Ambulanten Hilfe zu helfen. Barber Angel Francesca Bruscia strahlt schon kurz vor ihren Einsatz. Die Waiblingerin ist für die Region Stuttgart zuständig und hat die Friseure angesprochen. Sie ist seit 26 Jahren in ihrem Beruf tätig und vor vier Jahren zum Verein der Barber Angels gekommen: Alles steht bereit, Föns, Haarschneidemaschinen, Waschhauben. „Primär geht es um den Haarschnitt“, sagt Bruscia.
Barber Angel Marion im Einsatz für den 75-Jährigen. Foto: LICHTGUT/Max Kovalenko Im Nu sind die sechs Stühle besetzt
Dann startet die Aktion. Im Nu sind die sechs Stühle besetzt und die Menschen, die sich über die Hilfe der Barber Angels freuen, verschwinden unter schwarzen Friseurumhängen. Auch eine 74 Jahre alte Frau, die seit einem Jahr ins Café 72 kommt. „Das schönste hier ist, dass man duschen kann und immer ein Gespräch führen“, sagt sie. Früher war sie in der Pflege, im Haushalt und auch im Kurierdienst tätig. Derzeit, sagt sie, habe sie gerade eine Schlafstelle, die sie bezahlt. „Ich muss aber schauen, dass ich eine andere Bleibe bekomme“, sagt sie, während ein Barber Angel sie frisiert. Eine andere Frau erzählt, sie lebe seit zweieinhalb Jahren auf der Straße und suche eine Wohnung. Sie freut sich sehr, dass ihre Haare geschnitten werden: „Das lässt sich besser pflegen und ist schneller trocken“, sagt sie dankbar zu Barber Angel Marc Assenheimer aus Tübingen.
Auch ein 75-jähriger Iraner ist gekommen, der seit 1986 in Deutschland lebt. Der Maschinenbauingenieur lebt von 175 Euro im Monat und Grundsicherung wie er sagt und freut sich, wie Barber Angel Marion aus Tübingen ihm die Haare schneidet. Die Friseurin ist seit fünf Jahren dabei. „Es ist immer wieder beeindruckend, wie man mit seinem Handwerk so viel Schönes und Zufriedenheit und die Würde der Menschen herstellen kann. Dazu braucht es nur zwei Hände.“
Frau kommt kurz vor ihrem Vorstellungsgespräch
Eine 53-jährige Frau erzählt, sie lebe seit sechs Jahren in Notunterkünften. „Der Haarschnitt ist eine coole Sache“, findet sie. Sie lebe von Bürgergeld und sei öfter von Stalkern aus ihrer Unterkunft rausgeworfen worden. Die gelernte Bürokauffrau hat derzeit keine Beschäftigung. „Aber heute habe ich ein Gespräch, da gibt es wohl ein Zimmer für mich und Arbeit.“ Da kommt der Haarschnitt genau richtig.
Die Gäste im Café 72 genießen die Hilfe der Barber Angels. Foto: LICHTGUT/Max Kovalenko Ein Schreiner leidet an Osteoporose und Alkoholsucht
Der 54-jährige Thorsten sagt, warum ihm die Frisur wichtig ist: „Es ist meine gesunde Eitelkeit. Und die sollte jeder haben.“ Er kommt jeden Tag zum Essen ins Café 72. Er sei lange obdachlos gewesen und habe seit einem dreiviertel Jahr eine eigene Wohnung. Er zahle alles vom Bürgergeld. Das sei nicht einfach, aber er sei dankbar für die Wohnung. Er sei Alkoholiker und leide seit sechs Jahren unter Osteoporose, habe zahlreiche Knochenbrüche im Knie, Fuß und Gelenken. Der gelernte Schreiner ist in ärztlicher Behandlung. Als der Barber Angel Marc ihm vorsichtig den Bart stutzt und dann noch die Augenbrauen, freut er sich. Und der Friseur-Engel strahlt mit ihm um die Wette.
Eine Frau war fünf Monate im Gefängnis
Monika hingegen will nur die Spitzen schneiden lassen. Sie war vier Jahre und neun Monate nicht beim Friseur, wie sie sagt und stammt eigentlich aus Kroatien. Wegen Schwarzfahren war sie fünf Monate im Gefängnis. Sie erzählt pausenlos, während der Barber Angel sie frisiert. Als sie fragt, ob viel kaputt sei an den Haaren und der Friseur sie beruhigt, ist sie zufrieden.
Am Ende sind 16 Menschen frisiert und rasiert. Francesca Bruscia freut sich: „Der Bedarf ist da.“ Sie würde sich freuen, wenn auch andere Stuttgarter Friseure mitmachen und sich ehrenamtlich hier einsetzen. Und Barber-Angel-Chef Claus Niedermeier resümiert: „Jeder Einsatz hat hinterher das wunderbare warme Gefühl der Dankbarkeit der Gäste, das macht uns zufrieden. Auch zu sehen, wie schnell einen ein Schicksal passieren kann.“ Seit zehn Jahren ist er im Einsatz und er stellt zunehmende Altersarmut fest. Auch, wenn Menschen mit schwierigstem Hintergrund kommen, davor hat er keine Angst: „Es sind alles liebe Menschen, wenn sie spüren, wir machen was Gutes“, sagt er. Man müsse die Komfortzone verlassen. Die Armut sei überall gleich.
Der Barber-Angel-Chef trägt nicht nur die für ihn tiefgreifenden Schicksale von denen er beim Einsatz erfahren hat, mit, sondern an seiner Kutte noch etwas Besonderes: das Bundesverdienstkreuz. Das hat er letztes Jahr von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bekommen. „Es war einer meiner feierlichsten Momente in meinem Leben. Es hat uns mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung eingebracht“, freut er sich. Und für ihn hat die Etikette in Berlin sogar eine Ausnahme gemacht: Er durfte es in Kutte entgegennehmen. Stellvertretend für alle seine Engel im Einsatz.
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