Die Union ist schon mit 27 Mitgliedern praktisch unfähig, strategische Entscheidungen zu treffen. Jeder weitere Beitritt würde sie überfordern. Um weitere Staaten aufzunehmen, wird sie um eine Zwei-Klassen-Gesellschaft nicht umhinkommen.
Falls Sie es nicht bemerkt haben sollten: 2025 war das Jahr, in dem zumindest ein Staat vom Westbalkan Mitglied der EU hätte werden sollen. Zumindest hat das Johannes Hahn, einst Kommissar für Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsfragen, vor sieben Jahren prophezeit. „Sehr ehrgeizig, aber machbar“, sei das, hat Hahn im Frühjahr 2018 mehrfach zu Protokoll gegeben. Das heurige Jahr dauert noch knapp zwei Monate. Wunder darf man sich aber nicht erwarten. Die EU wird 2025 mit 27 Mitgliedern beenden – und mit ebenso vielen 2026 beginnen.
Natürlich kann man dieses krasse politische Fehlurteil Hahn nicht allein anlasten. Er war bloß auf Linie seines Präsidenten, Jean-Claude Juncker. Derselbe Juncker, der zu Beginn seiner Amtszeit noch die Stopptaste für die Erweiterungspolitik gedrückt hatte. Ein Jahr vor Ende seines Quinquenniums machte Juncker eine 180-Grad-Wende. Erst bremsen, dann unrealistische Erwartungen wecken: Wer soll sich da noch auskennen?
Die Erweiterungspolitik der EU ist auf tragische Weise paradox. Sie ist aus geostrategischen Gründen unausweichlich. Aber zugleich ist sie aus politischen, institutionellen Gründen unmöglich. Derzeit sind weder die Kandidatenländer noch die EU als solche noch die Wähler in Schlüsselstaaten erweiterungsreif, hielt das Clingendael-Institut, der Thinktank des niederländischen Außenministeriums, im März vorigen Jahres fest.
Das muss nicht so sein. Nüchtern betrachtet ist die Aussicht darauf, Mitglied im Klub der reichsten und sichersten Länder der Welt zu werden, ein mächtiges geopolitisches Werkzeug. Während die USA unter Präsident
Donald Trump eine nicht nur sinnbildliche Kanonenbootpolitik betreibt und Russland Staaten in seiner eingebildeten Einflusssphäre entweder bombardiert oder mit fünften Kolonnen korrumpiert, macht die EU ein fabelhaft klingendes Angebot: Übernimm unsere Gesetze, dann wirst du gleichberechtigtes Mitglied.
Das ist allerdings eine Illusion. Spätestens die große Erweiterungswelle vor zwei Jahrzehnten hat das offenbart, was man im Eurosprech „institutionelle Grenzen“ nennt. Das betrifft aktuell die Erweiterungspolitik selbst. Solang auch nur irgendein Mitgliedstaat eine moskautreue Regierung hat, können sich die Ukraine und Moldau ihren Beitritt in die Haare schmieren – egal, wie viele Zierleisten sie unter ihre Beitrittshausaufgaben malen mögen (Hausaufgaben, von deren zufriedenstellender Erfüllung sie derzeit ohnehin noch sehr weit entfernt sind).
Provokant ausgedrückt: Kosovo mit denselben Vetorechten wie Frankreich? So etwas wird es nie spielen. Das ist nicht abwertend gegenüber den Kosovaren gemeint. Das ist politische Realität. Klare Mehrheiten der Bürger in so gut wie allen EU-Staaten sind gegen die Erweiterung. Sie wird man nur überzeugen können, wenn man ihnen die Angst vor einer gelähmten Union nimmt.
Darum sollte die EU schleunigst klarmachen, dass neue Mitglieder vorerst nicht die vollen Rechte genießen werden. Klar: Teilnahme an allen Politiken, auch und vor allem an der Agrar- und Kohäsionspolitik (und ja: das wird viel Geld kosten). Aber kein Veto im Rat. Das müssen sie sich erst verdienen.
Wer das ungerecht, paternalistisch, neokolonial findet, sei daran erinnert, dass kein Staat genötigt wird, der EU beizutreten. Dass es praktisch alle ihre unmittelbaren Nachbarn freiwillig tun, sollte den Feinden des Einigungswerks zu denken geben. Die EU ist nicht perfekt – aber die beste Lösung, um Europas Interessen auch in einer Welt von Techbaronen und Diktatoren zu verteidigen.
E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.obfuscationcom
Lesen Sie mehr zu diesen Themen: