Hinzu kommen zum Teil schwache Wirtschaftsleistungen in den Ländern. Etwa in Deutschland. Die deutsche Wirtschaft steckt in der Dauerkrise. Nach einem Minus im Frühjahr stagnierte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) im dritten Quartal. Das Statistische Bundesamt errechnete anhand vorläufiger Daten ein Wachstum von null Prozent, gemessen am Vorquartal. Damit fiel Deutschland sogar hinter einstige Krisenländer wie Spanien und Portugal zurück. Und auch insgesamt kommt Europas Konjunktur nur schleppend in Schwung. Laut Eurostat legte die Wirtschaft im Euroraum im Sommer zum Vorquartal nur um 0,2 Prozent zu.
„Das bringt uns zu der Frage, wie Europa auch weiterhin die Dinge bezahlt, die es sich eigentlich gar nicht mehr leisten kann“, so Kammer. Die Frage birgt eine Menge Sprengstoff. Denn in vielen Ländern Europas kämpfen Regierungen um nachhaltige Reformen des Sozialstaats. In Frankreich wurde gerade eine großangelegte Rentenreform auf Druck der linken Opposition ausgesetzt. In Deutschland streitet die Koalition seit ihrem Antritt um eine Reform des Bürgergelds.
Auch sind die Quoten der Staatsverschuldung in vielen europäischen Ländern hoch, die öffentlichen Kassen weitgehend leer. Nicht nur in Griechenland, Italien, Spanien, auch in Frankreich oder Belgien.
„Um die Fiskalpolitik steht es jetzt schon schlecht“, sagte Kammer, „doch die Herausforderungen, vor denen Europa steht, werden immer größer“. Es sei daher vollkommen klar, dass „Nichtstun keine Option mehr ist“. Sollten die europäischen Regierungen einfach so weitermachen wie bisher, werde die durchschnittliche Verschuldung in den kommenden 15 Jahren bei 130 Prozent der Wirtschaftsleistung liegen. Eine riesige Nachhaltigkeitslücke entstünde. In dem Fall müssten die EU-Länder zwischen dreieinhalb und fünf Prozent des BIP einsparen, um die Staatsfinanzen zu konsolidieren.
„Wie jeder Finanzminister bestätigen wird, sind bereits fiskalpolitische Anstrengungen, die zu Einsparungen von drei Prozent führen, ein enormes politisches Unterfangen“, so Kammer. „Fünf Prozent sind eine fast unmögliche Aufgabe und würden tiefgreifende Einschnitte in das europäische Modell und den Sozialvertrag erfordern“. Die Schlussfolgerung des IWF ist eindeutig: Renten, Gesundheitsvorsorge und viele andere staatliche Leistungen sind mittel- und langfristig in der jetzigen Form nicht mehr finanzierbar. Ein rigoroser Sparkurs muss her, ansonsten könnte das gesamte europäische Modell zur Disposition stehen – und den Wohlfahrtsstaaten drohte womöglich der Kollaps.