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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

der deutsche Staat gleicht Gulliver: Das größte Land Europas ist ein gefesselter Riese, der die zentralen Probleme der Zeit – Energieumbau, Wirtschaftsschwäche, Migration, Digitalisierung – nicht entschlossen genug anpackt, weil er sich permanent in den bürokratischen Stricken verheddert, die er sich selbst angelegt hat. Zwischen 2010 und 2024 ist das Volumen der Bundesgesetze um 60 Prozent gewachsen und umfasst nun unfassbare 39.536 Druckseiten. Woche für Woche kommen neue Vorschriften und neue Paragrafen hinzu, nicht einmal mehr Staatsbeamte blicken da noch durch, weshalb Ministerien und Behörden aberwitzige Summen für Deutungshilfe ausgeben: Dem Bundesrechnungshof zufolge haben die Bundesregierungen der vergangenen zehn Jahre mehr als 1,6 Milliarden Euro für Unternehmensberater verpulvert. Die Ergebnisse sind oft verheerend – vom Maskenskandal bis zum verkorksten Heizungsgesetz.

Trotz Heerscharen teurer Berater wächst auch der Behördenmoloch von Jahr zu Jahr: Sage und schreibe 960 nachgelagerte Behörden mit 350.000 Beamten leistet sich die Bundesverwaltung mittlerweile. Und all die Staatsdiener produzieren pausenlos Vorschriften, Auslegungsverordnungen und Bescheide. 64 Milliarden Euro betragen die Bürokratiekosten für Unternehmen und Bürger. Pro Jahr. Es ist ein Schlamassel ohne Ende – bisher.

So kann es nicht weitergehen, will Deutschland nicht als „Failed state“ enden. Bundeskanzler Friedrich Merz hat den Bürokratieabbau zur Priorität erhoben und verspricht, anders als seine Vorgänger Angela Merkel und Olaf Scholz Wort zu halten. Bei denen bedeutete „Bürokratiebremse“: Drei neue Gesetze rein, ein altes … na, schaun wir mal.

Der neue Chef-Bürokratriebekämpfer heißt Karsten Wildberger: Der ehemalige Konzernchef von Media Markt/Saturn führt das neu geschaffene Ministerium für Digitales und Staatsmodernisierung. Heute Vormittag will das Bundeskabinett das erste Entlastungspaket beschließen, das der gelernte Physiker gemeinsam mit den anderen Ministerien geschnürt hat – oder sollte man eher sagen: das er ihnen abgerungen hat? Zwar lobt Wildberger die gute Zusammenarbeit, aber ein Selbstläufer scheint die Lichtung des Staatsdschungels nicht zu sein.

Kein Wunder. Erstens verbietet das Grundgesetz aus historischen Gründen die Vermischung der Verwaltungszuständigkeiten von Bund und Ländern. Wer zentrale Digitalstandards einführen will – ob für die Auto-Anmeldung oder Bauanträge – landet deshalb schnell im Kompetenzgerangel. Zweitens gilt das Regel-Überlagerungsprinzip: Byzantinische EU‑Vorgaben wie die Richtlinien zur Cybersicherheit oder zur Berichtspflicht über – Achtung, keine Satire! – die sozialen, ökologischen, ethischen und philanthropischen Folgen der Geschäftsstätigkeit bürden Firmen nicht nur haarsträubend komplexe Vorschriften auf, sondern sind auch nicht einfach per Federstrich aus Berlin abzuschaffen. Es braucht den Konsens von EU-Kommission und EU-Rat der Mitgliedstaaten, um einige der dicksten Fesseln zu sprengen, die den deutschen Gulliver knebeln. Und schließlich bremst drittens der Fachkräftemangel jede noch so gut gemeinte Initiative: Ohne IT‑Fachkräfte bleibt jedes Digitalportal ein schöner Vorsatz.

Was tun? Der Blick nach Argentinien zeigt: Mit der Kettensäge lässt sich zwar Wahlkampf machen – Regieren in einem Rechtsstaat funktioniert so aber nicht. Radikale Kahlschläge produzieren vor allem Widerstände und Klagewellen. Trotzdem braucht es auch hierzulande tiefe Schnitte – präzise, nicht brachial. Dabei geht es erst mal um das Wie, erst im zweiten Schritt um das Was. Drei Vorschläge:

1. Weniger ist mehr. Bundesgesetze sollten allgemeinverständlich formuliert sein und nicht Spezialfälle regeln, sondern allgemeine Prinzipien. Wo Unklarheiten bleiben, sollten der Markt entscheiden oder Richter schlichten.

2. Umkehr der Beweislast. Wo keine Sicherheitsrisiken drohen, sollten Genehmigungen nach Ablauf kurzer Fristen automatisch als erteilt gelten – allein der Verzicht auf umständliche Doppel- und Dreifachanträge würde viel Geld und Nerven sparen.

3. Einmal genügt. Bürger und Firmen sollten Daten nur ein einziges Mal angeben müssen, gespeichert und mit persönlicher ID verbunden auf Staats-Servern wie in Estland oder Italien. Behörden dürften nach transparenten Regeln auf notwendige Daten zugreifen, aber ihre Kunden nicht mehr mit wiederkehrenden Formularschlachten behelligen.

Haben Merz, Wildberger und die Regierungsparteien CDU, CSU und SPD den Mut zu so radikalen Schritten? Was fällt ihnen noch ein, um den deutschen Bürokratiewust zu bändigen? Acht größere Maßnahmen und einen Bericht mit 50 weiteren Detailregeln bringen sie heute auf den Weg. Weil wir es ganz genau wissen wollen, haben meine Kollegin Annika Leister und ich Minister Wildberger dazu befragt. Das Interview lesen Sie heute Mittag auf t-online. Ich sage es mal so: Die Chancen stehen nicht schlecht, dass sich der deutsche Gulliver befreien kann. Zumindest einen Arm.

Minister Karsten Wildberger will den Bürokratiebeton aufhebeln.Vergrößern des BildesMinister Karsten Wildberger will den Bürokratiebeton aufhebeln. (Quelle: t-online)Schlange vor Lebensmittelausgabe in New York.Vergrößern des BildesSchlange vor Lebensmittelausgabe in New York. (Quelle: Michael M. Santiago/Getty Images via AFP)

Donald Trump, der Mann der zweifelhaften Superlative, kann einen neuen Rekord vorweisen: Mit dem heutigen Tag dauert die Haushaltssperre, die seit dem 1. Oktober Bundesbehörden in den gesamten USA lahmlegt, so lange wie keine je zuvor, nämlich 36 Tage. Die bisherige Shutdown-„Bestmarke“ stammte aus der ersten Amtszeit des US-Präsidenten. Um den Jahreswechsel 2018/19 brauchte es 35 Tage, bis sich Republikaner und Demokraten im Kongress auf ein Budget verständigen konnten. Gestritten wird diesmal um Gesundheitskosten für die Programme Medicaid und Obamacare, die Trump für überflüssig hält. Dass sich mittlerweile sogar unbezahlte Flughafenmitarbeiter vor Lebensmittelausgaben für Bedürftige anstellen müssen, dürfte ihn kaum rühren.

Das Augenmerk des Präsidenten wird sich heute vielmehr auf den Supreme Court in Washington richten: Der Oberste Gerichtshof der USA beschäftigt sich mit der Rechtmäßigkeit seiner aggressiven Zollpolitik. Was im Falle einer Entscheidung gegen ihn drohen würde, hat Trump den Richtern sicherheitshalber schon vor Augen geführt: nicht weniger als der „Untergang“ des Landes. Allzu große Sorgen vor einer unabhängigen Justiz muss sich der Präsident allerdings nicht machen. Schließlich hat er höchstpersönlich für eine konservative 6-zu-3-Mehrheit in dem Gremium gesorgt.

Auch New York macht heute Morgen Schlagzeilen: Die Bürgermeisterwahl in der größten US-Metropole hat ein bemerkenswertes Ergebnis hervorgebracht, das nicht nur in amerikanischen Medien für Eilmeldungen sorgt. Der 34-jährige Zohran Mamdani lag nach Auszählung von mehr als 90 Prozent der Stimmen uneinholbar vorn. Damit bekommt New York fast ein Vierteljahrhundert nach den Anschlägen vom 11. September einen Muslim an der Spitze der Stadtverwaltung. Der Demokrat Mamdani konnte mit einem ausgeklügelten Wahlkampf und einer ausgesprochen linken Agenda überzeugen. Zu seiner ungewöhnlichen Biografie gehört auch eine Episode als Rapper.

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