Bei Richard Wagner, befand schon dessen Komponistenkollege Gioachino Rossini, gebe es reizende Momente, aber schreckliche Viertelstunden. Warum also nicht die Momente rauspicken und die Viertelstunden einfach weglassen, sogar den ganzen Gesang? Der Dirigent (und ebenfalls Komponist) Lorin Maazel hat das 1987 getan: den mindestens 14-stündigen „Ring des Nibelungen“ zusammengeschnitten zu einer Art Orchestersymphonie von etwa siebzig Minuten – Teodor Currentzis hat sie für seine laufende Tournee mit dem Utopia Orchestra gewählt, zu erleben in München auf Station in der Isarphilharmonie.
„Der Ring ohne Worte“ ist eine Programmwahl, die bei dem Griechen mit russischem Zweitpass erstaunt und zugleich auch nicht: Currentzis hat bislang unter Wagners nächtefüllenden Musikdramen nur das „Rheingold“ dirigiert, den knapperen Vorabend des „Rings“, vor zehn Jahren bei der Ruhrtriennale. Dabei scheinen Wagners Überwältigungsästhetik und Verzauberungstricks wie geschaffen für den Dirigenten mit der genialen oder auch nur genialischen Aura.
Im Unterschied zwischen beidem bewegt sich eine der Debatten um Currentzis. Die andere geht um sein Engagement bei den MusicAeterna-Ensembles in St. Petersburg, die er vor zwei Jahrzehnten gegründet hat und die von russischen Sponsoren finanziert werden. Geführt wird die Debatte soeben wieder in Österreich: Der dortige Kulturminister Andreas Babler (SPÖ) möchte Currentzis das Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst verleihen, während Kritiker darauf verweisen, dass dieser sich noch immer nicht zum Ukraine-Krieg geäußert habe. Momentan liegt die Angelegenheit beim österreichischen Bundespräsidenten.
Begehrt bleiben Auftritte von Currentzis in jedem Fall, beim Publikum, das vor der ausverkauften Isarphilharmonie nach Karten sucht, ebenso bei vielen exzellenten und neugierigen Musikern, die unbedingt mit ihm arbeiten wollen. Man sieht es schon an den Gesichtern auf der Bühne: alles scharf geschnittene Typen, männlich wie weiblich, viele jung, andere erfahren, aber definitiv keine Kunstbeamten im Utopia Orchestra.
Seit 2022 stellt es Currentzis je nach Projekt neu für Auftritte in Westeuropa zusammen, finanziert von der österreichischen Kunst-und-Kultur-DM-Privatstiftung des verstorbenen Milliardärs Dietrich Mateschitz. Am Montag hat die Tournee in der Berliner Philharmonie begonnen, demnächst will Currentzis auch noch ein eigenes Plattenlabel an den Start bringen.
In den Posen ist Currentzis zurückhaltender als früher
Dabei tritt er selbst in der Isarphilharmonie erst mal gar nicht vors Orchester. Sondern Giuseppe Mengoli, mündlich angekündigt als Überraschungs-Event zur Förderung des Nachwuchses. Er darf „Arena for Orchestra“ des finnischen Komponisten Magnus Lindberg leiten, einen viertelstündigen, oft rasenden Reißer aus dem Jahr 1995. Ein unbeschriebenes Blatt ist der junge Italiener spätestens seit dem Gewinn des Mahler-Dirigierwettbewerbs 2023 in Bamberg nicht mehr. Als Vor-Band bekommt er nun die ganz große Arena, bevor er im weiteren Abend bescheiden unter den Violinen mitspielt: sechs Harfen, zehn Kontrabässe, fast alles schon da, was Wagner braucht und verschlingt.
Für den „Ring ohne Worte“ wird es trotzdem noch ein bisschen mehr, besonders bei den acht Schlagzeugern: Becken, Tamtam, Ambosse, der riesige Hammer des Gottes Donner. Dann geht es Schlag auf Schlag, vom Grund des Rheins über Nibelheims Schluchten in den Walkürenritt, vom Drachentöten über Siegfrieds Trauermarsch flugs in den Weltenbrand. Currentzis dirigiert ohne Stab mit bloßen Händen, groß, aber effizient in der Zeichengebung, definitiv ernster geworden, zurückhaltender in den Posen als früher, aber fraglos charismatisch. Das Utopia Orchestra spielt zum Niederknien, ein Solo besser als das andere, als Gruppe ein Hochpräzisionsapparat wie ein Porsche, der blitzschnell von null auf hundert beschleunigt. Was Currentzis denn auch immer wieder tut.
Ein Dialog auf Augenhöhe also zwischen zwei umstrittenen und geliebten Genies, Wagner und Currentzis? Darüber lässt sich wenig sagen nach dem Abend, was am Stück liegt. Maazel wählte für seine (Re-)Komposition nicht nur die reizenden Momente, sondern vor allem auch die lauten. Ein Dezibelsturm rast durch die akustisch eher zart besaitete Isarphilharmonie, bevor der Applaus die Wände ein weiteres Mal zum Wackeln bringt.
Aber einen formalen Bogen bietet die Ausschnittsammlung nicht oder formt Currentzis nicht. Er dirigiert Wagner auf der Höhe der Zeit, scharf phrasiert, rhetorisch empfunden, klanglich gestaffelt. Aber wie er mit den epischen Längen der Musikdramen umginge, die langen Bögen über die schrecklichen Viertelstunden spannte, muss einstweilen noch offen bleiben. Bayreuth, wie wär’s? Maximale Aufmerksamkeit wäre jedenfalls gesichert.