Studien zeigen, dass Bewegung hilft, die typischen ADHS-Symptome zu lindern. Doch nicht alle Sportarten sind gleich gut geeignet.
Elisa Malinverni07.11.2025, 05.30 Uhr
Illustration Jasmin Hegetschweiler / NZZ
Immer mehr Erwachsene lassen sich mit Verdacht auf die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, abklären. Oft bringt auch die späte Diagnose Erleichterung und eine Erklärung für Charaktereigenschaften, mit denen die Betroffenen häufig schon seit der Kindheit zu kämpfen haben.
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Die Behandlung von ADHS setzt auf eine Kombination von psychopharmakologischen und psychotherapeutischen Mitteln. Patientinnen und Patienten werden in der Medikation psychiatrisch begleitet. Die Psychoedukation vermittelt ihnen Wissen über die drei Hauptkomponenten von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivität, Impulsivität) und Strategien im Umgang damit. Ziel der Behandlung ist nicht, symptomfrei zu werden, sondern die von ADHS verursachten Konsequenzen und den Leidensdruck im Alltag zu lindern.
Neben diesen Massnahmen ist aber auch Sport wertvoll. «Die Studienlage ist relativ klar», sagt Professor Christian Mikutta, stellvertretender ärztlicher Direktor der Privatklinik Meiringen im Kanton Bern. «In der Behandlung machen wir mit Sport immer wieder sehr gute Erfahrungen.» Auch Sarah Berger, Psychotherapeutin bei der Praxis Psy-Bern, die den Schwerpunkt auf die Diagnostik und die Behandlung von ADHS legt, stimmt dem zu: «Sport kann viele typische ADHS-Beschwerden abschwächen», sagt sie. «Auf Verhaltensebene hilft Bewegung beispielsweise, überschüssige Energie abzubauen, innere Unruhe zu reduzieren und die Stimmung zu stabilisieren.»
Was passiert beim Sport im Körper?
Das Auspowern ist ein Ventil für die berüchtigte Hibbeligkeit. Bewegung fördert auch die Ausschüttung der Botenstoffe Dopamin, Noradrenalin und Serotonin. Das sind genau jene Neurotransmitter, die bei ADHS-Betroffenen im präfrontalen Kortex zu wenig verfügbar sind. «So können sich ADHS-Patientinnen und -Patienten unmittelbar nach dem Sport oft besser konzentrieren», sagt Sarah Berger.
«Bewegung senkt auch den Cortisolspiegel, reduziert also Stress im Nervensystem», sagt Berger weiter. «Da Affektlabilität und Impulsivität auch Aspekte von ADHS sind, steigert Stressabbau die sonst eingeschränkte emotionale Selbstregulation.»
Auch von Sportarten, die Geschicklichkeit und Konzentration erfordern, profitieren ADHS-Betroffene besonders. «Ein gutes Beispiel ist Klettern», sagt Christian Mikutta. «Wenn ich mich darauf konzentrieren muss, wo der nächste Griff ist und wo ich meinen Fuss aufsetze, komme ich in den Fluss.» Der Flow-Zustand ermöglicht es Menschen mit ADHS, jenen Filter zu installieren, der ihnen sonst fehlt. Anders als sonst können sie so nichtrelevante Reize ausblenden.
Wirken Yoga und Achtsamkeit?
«Mit achtsamkeitsbasiertem Training nehmen wir die Komponente des Aufmerksamkeitsdefizits ins Visier», sagt Christian Mikutta. «Die Studienlage dazu ist sehr gut.» Allerdings ist das eine paradoxe Problematik. «Für ADHS-Patientinnen und -Patienten ist es aufgrund ihrer inneren Unruhe schwierig, so etwas wie Atemübungen still im Sitzen zu machen», sagt Mikutta. «Deshalb versuchen wir in der Klinik Meiringen, Achtsamkeit in Kombination mit Bewegung zu vermitteln. Das gefällt den Menschen mit ADHS besser. Sie entwickeln Freude an den Mindfulness-Modalitäten und sind motivierter, diese weiter anzuwenden.»
Entsprechend können Kampfsportarten für ADHS-Betroffene ein guter Mittelweg sein, da sie meist Konzentration und Selbstkontrolle mit Dynamik oder Schnellkraft verbinden. «Wer mit Impulsivität zu kämpfen hat, kann von strukturorientierten Kampfsportarten, wie beispielsweise Aikido, profitieren», sagt Berger.
Wo ist Vorsicht geboten?
Gerade Extremsportarten wie Base-Jumping, Downhill-Biken oder Free-Solo-Klettern üben auf manche ADHS-Betroffene eine grosse Sogwirkung aus. Sie erhöhen die Adrenalinausschüttung und sprechen direkt das für Dopamin empfängliche Belohnungssystem im Gehirn an, was Menschen mit ADHS grundsätzlich hilft. «Andererseits steigern sie auch das Bedürfnis nach dem Kick und nach schneller Reizbefriedigung», gibt Berger zu bedenken.
Schwierig ist auch, dass die Impulsivitätskomponente von ADHS zu erhöhter Risikobereitschaft führt. In Kombination mit einer Sportart, bei der man die eigene Unversehrtheit sowieso gefährdet, ist der Mangel an Selbstkontrolle ein schlechter Ratgeber.
Interessanterweise entdecken viele ADHS-Betroffene von selbst die fokussierende und beruhigende Wirkung von Bewegung. Doch Christian Mikutta äussert einen weiteren Vorbehalt, den es zu beachten gilt: «Bei manchen Menschen mit ADHS sind die innere Unruhe und damit der Bewegungsdrang so gross, dass sie Sport zu intensiv betreiben und sich keine Erholungspausen mehr gönnen.» Das schadet dem Körper langfristig. «In einem solchen Fall würden wir zusätzlich zur Medikation raten», sagt Mikutta.
Aber auch monotone Bewegungsformen können bei manchen Betroffenen kontraproduktiv sein, weil sie sich rasch langweilen und die Motivation verlieren. Sport in einem Team bringt den Vorteil einer klaren Struktur, von der Menschen mit ADHS grundsätzlich profitieren. Je nach Gruppendynamik und individueller Reizverarbeitung kann Teamsport allerdings auch überfordernd wirken – wenn es beispielsweise zu laut oder unruhig ist oder wenn ein hohes Konfliktpotenzial besteht unter den Teammitgliedern.
Kann Sport eine Therapie ersetzen?
In der Fachwelt ist man sich einig, dass Sport kein Ersatz ist für eine umfassende Therapie, vor allem bei mittleren bis schweren Ausprägungen der Diagnose ADHS. «Bewegung kann Symptome sicherlich lindern», sagt Sarah Berger. «Am wirksamsten ist sie als Teil eines multimodalen Behandlungskonzepts, das auch Psychotherapie, Psychoedukation und medikamentöse Unterstützung umfasst.»
Ein Artikel aus der «NZZ am Sonntag»