„Nürnberg 45 – Im Angesicht des Bösen“ heißt das inhaltlich wie künstlerisch herausragende Dokudrama, mit dem die ARD an die Eröffnung des Hauptkriegsverbrecherprozesse 1945 erinnert. Die Sendeplanung jedoch ist skandalös.

Ein heiseres „Nein!“ war alles, was Hitlers einstiger Stellvertreter in der NSDAP am 20. November 1945 zu sagen hatte. Mit diesem einen Wort reagierte Rudolf Heß bei der Eröffnung des Hauptkriegsverbrecherprozesses in Nürnberg auf die Frage des Vorsitzenden Richters, ob er sich „Schuldig“ oder „Nicht schuldig“ bekenne. Ungerührt gab Sir Geoffrey Lawrence dem Stenografen die Anweisung: „Dies wird als ,Nicht schuldig!‘ protokolliert.“ Als daraufhin kurzes Gelächter im Gerichtssaal aufbrandete, reagierte der distinguierte Brite umgehend: „Wer die Verhandlung stört, hat den Saal zu verlassen!“ Die Zuschauer, darunter zahlreiche Journalisten, verkniffen sich fortan jede Gemütsäußerung.

Auf der Pressebank saß ein junger, schmächtiger Mann. Gerade einmal 22 Jahre zählte der gebürtige Mannheimer Ernst Michel, doch er hatte schon mehr durchgemacht als alle anderen Männer und Frauen im Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes. 674 Tage nämlich war er, seit Anfang März 1943, im KZ Auschwitz eingesperrt gewesen. Die Nummer 104.995 war ihm in den linken Unterarm tätowiert worden. Nun durfte er, auf Vermittlung eines liberalen Publizisten namens Theodor Heuss, als jüngster Berichterstatter den bis dahin wichtigsten Prozess der Weltgeschichte verfolgen – und als einziger Holocaust-Überlebender, der monatelang fast jede Sitzung sah.

Die historische Figur Ernst Michel ist, ergreifend verkörpert von dem 31-jährigen Schauspieler Jonathan Berlin, die eine Hauptfigur im Dokudrama „Nürnberg 45. Im Angesicht des Bösen“. Der Kölner Produzent Michael Souvignier, bekannt unter anderem für das Goebbels-Dokudrama „Führer und Verführer“ (2024) und die Bankenskandal-Komödie „Goldjungs“ (2021), hat den Film zusammen mit „Spiegel-TV“ aus Anlass des 80. Jahrestages des Hauptkriegsverbrecherprozesses für die ARD gedreht.

Die andere, weibliche Hauptrolle ist ebenfalls eine reale Person, die Auschwitz überstanden hatte: die 29-jährige Polin Seweryna Smaglewska (gespielt von Katharina Stark). Weil sie schon wenige Monate nach ihrer Flucht während der Todesmärsche aus dem größten KZ Mitte Januar 1945 einen Erlebnisbericht veröffentlicht hatte, war sie als Zeugin zum Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher geladen.

Die Entscheidung, das zeitgeschichtliche Thema Nürnberger Prozess aus der Perspektive der jungen Erwachsenen Michel und Smaglewska zu erzählen, traf Drehbuchautor Dirk Eisfeld bewusst – um den Film anschlussfähig für jüngere Zuschauer zu machen. Seine Recherchen, unter anderem zusammen mit dem „Spiegel-TV“-Historiker Michael Kloft, führten dann zu der wahren Geschichte der beiden Auschwitz-Überlebenden.

Als Glücksfall erwies sich, dass der 2016 mit fast 93 Jahren verstorbene Ernst Michel einmal ein ausführliches Zeitzeugen-Interview gegeben hatte, in dem er über seine Verfolgung als Jude (Eltern und Großmutter wurden ermordet, nur seine Schwester entkam 1939 durch einen Kindertransport diesem Schicksal) und die Zeit im KZ gesprochen hatte. Damit sowie einem Interview mit dem Sohn von Seweryna Smaglewska, dem Warschauer Anglistik-Professor Jacek Wiśniewski, hatte Eisfeld das notwendige Rohmaterial für ein Dokudrama, also die Kombination von Originalfilmmaterial, Spielszenen und Zeitzeugen-Interviews.

1945/46 erschienen Michels Artikel aus Nürnberg, verfasst für die „Deutsche Allgemeine Nachrichten-Agentur“, einen Vorläufer der dpa, in mehreren Dutzend deutschen Regionalzeitungen; so erreichten sie eine für die unmittelbare Nachkriegszeit außergewöhnlich große Verbreitung. Auf ausdrücklichen Wunsch seines Vorgesetzten hielt er einige seiner Berichte persönlich; sie waren dann gezeichnet mit der Autorenzeile „Von Sonderberichterstatter Ernst Michel, Auschwitz-Nr. 104.995“.

In seinen 2013 auch auf Deutsch erschienenen Lebenserinnerungen schrieb er: „Ich befand mich wieder in einer Grauzone. Vor weniger als sechs Monaten war ich noch Häftling in einem Konzentrationslager der Nazis gewesen, und jetzt saß ich in einem Gerichtssaal des Nürnberger Justizpalastes. Das Gesindel, das verantwortlich für die schlimmsten Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist, saß weniger als sieben Meter von mir entfernt. Nun ging es für sie um Leben und Tod.“

Eine Konstellation, wie sie sich kein Drehbuchautor einfallen trauen würde, wenn sie nicht wahr wäre: Zwei KZ-Überlebende, die einander vielleicht sogar begegneten (jedenfalls schrieb Michel über die Zeugenaussage von Smaglewska einen Artikel), erlebten juristisches Neuland, die Begründung des Völkerstrafrechts.

Vor allem die Amerikaner hatten auf einem bis ins Detail rechtsstaatlichen Verfahren mit umfassender Beweiserhebung, allen Rechten für Angeklagte und Verteidiger sowie selbstverständlich umfassender Berichterstattung durch internationale und deutsche Journalisten bestanden. Sie wollten auf keinen Fall einen Schau- oder gar „kurzen Prozess“. Doch für so etwas brauchte man Raum: für mehr als tausend Mitarbeiter, hunderte Zeugen und Unmengen von Beweismaterial. Und einen großen Saal.

Daher hatte der Hauptkriegsverbrecherprozess zwar formal in Berlin begonnen, am 20. Oktober 1945, war dann aber zur ersten Sitzung mit den 22 Angeklagten in den kaum beschädigten Saal 600 des Nürnberger Justizpalastes umgezogen. An dessen Rückseite ein großes Zellengefängnis mit vier Flügeln, von denen ein ganzer für die Angeklagten reserviert wurde.

An sich waren 24 Personen angeklagt worden, stellvertretend für die obersten Staatsorgane (Hitler Nachfolger als Reichspräsident Karl Dönitz sowie die ehemaligen Minister Joachim von Ribbentrop, Wilhelm Frick und Walther Funk), die NSDAP-Führung (Rudolf Heß), die Wehrmacht (Wilhelm Keitel, Alfred Jodl und Erich Raeder) und weitere Institutionen des Dritten Reiches. In Abwesenheit angeklagt war der spurlos verschollene Martin Bormann, Hitlers fast allmächtiger Sekretär – erst zwei Jahrzehnte später wurde sein Leichnam in Berlin gefunden, denn er hatte in der Nacht zum 2. Mai 1945 Selbstmord begangen. Ein weiterer Angeklagter, der NSDAP-Funktionär Robert Ley, hatte sich vor Prozesseröffnung selbst gerichtet.

Der wichtigste Beschuldigte, der auch auf dem prominentesten Platz der Anklagebank saß, vorne links und genau gegenüber dem Vorsitzenden Geoffrey Lawrence, war Hermann Göring. Der Schriftsteller Erich Kästner, für die amerikanische „Neue Zeitung“ bei der Prozesseröffnung anwesend, beschrieb den ehemals zweiten Mann des Dritten Reiches so: „Göring trägt eine lichtgraue Jacke mit goldenen Knöpfen. Die Abzeichen der Reichsmarschallwürde sind entfernt worden, die Orden sind verschwunden. Es ist eine Art Chauffeurjacke übrig geblieben.“

Auch Göring hatte sich „Nicht schuldig“ bekannt. Demonstrativ ignorierte er das Gericht zunächst, fabulierte gegenüber seinem Anwalt über Statuen, mit denen in Deutschland bald an ihn erinnert würde, und brachte es sogar fertig zu behaupten, von der Judenvernichtung nichts gewusst zu haben. Er war ohne Zweifel der diabolische Kopf der Angeklagten. Dagegen erschien ein pathologischer Antisemit wie der Herausgeber der Hetz-Postille „Der Stürmer“ Julius Streicher einfach nur als Jammerlappen. Hitlers einstiger Favorit Albert Speer log, dass sich die Balken borgen, um dem Galgen zu entgehen – er erfand sogar einen angeblichen Attentatsplan gegen Hitler, was ihm tiefe Verachtung der übrigen Angeklagten einbrachte.

Überraschenderweise beauftragte ausgerechnet Göring seinen Verteidiger Otto Stahmer (eine hochinteressante Figur, die einen zweiten und dritten Blick verdient hat, was aber ein Dokudrama prinzipbedingt nicht leisten kann), Ernst Michel alias Auschwitz-Häftling Nr. 104.995 zu einem Gespräch in seine Zelle zu lotsen. Bisher gibt es darüber nur Michels Darstellung in seinen Memoiren, keine Parallelüberlieferung zum Beispiel im Nachlass von Stahmer. Dessen 123 Ordner liegen im Bundesarchiv, doch aus Zeitgründen konnte Dirk Eisfeld sie bisher nicht auswerten.

Ohnehin besteht kein Grund, an der Darstellung des damals jungen Reporters zu zweifeln. Denn er schildert den Besuch in Görings Zelle als eigenes Scheitern: Göring hielt ihm die Hand hin, doch Michel zögerte erst, drehte sich dann um und verließ die Zelle. „Noch heute bedauere ich diesen Vorfall“, heißt es in Michels Buch: „Ich bedauere, dass ich zustimmte, Göring persönlich zu treffen. Und ich bedauere, dort nur stillgestanden zu haben und dann hinausgerannt zu sein. Es war irrational.“

Wenn Ernst Michel diese Episode erfunden hätte, dann hätte er sich gewiss mehr und Spektakuläreres einfallen lassen können – und er hätte darüber nicht erst sechs Jahrzehnte später geschrieben. Man darf also davon ausgehen, auch (noch) ohne Bestätigung in einer Parallelüberlieferung, dass die kurze Begegnung des Auschwitz-Überlebenden und des angeklagten Hauptkriegsverbrechers genauso stattgefunden hat.

„Nürnberg 45 – Im Angesichts des Bösen“ ist ein herausragender Film, sowohl hinsichtlich des Drehbuches als auch der schauspielerischen Leistung und der Inszenierung. Nicht einmal die bei Woody Allen und Kevin Spacey entlehnte Marotte, dass sich die beiden Hauptdarsteller wiederholt direkt an das Publikum wenden (bekannt als „Durchbrechen der vierten Wand“), stört.

Trotzdem ist scharfe Kritik angebracht: an der Sendeplanung der ARD. Ausgestrahlt wird der Film am Sonntagabend um 21.45 Uhr, also nach dem „Tatort“.

Das ist der inhaltlich wie künstlerisch herausragenden Produktion absolut unangemessen – sie hätte auf den prominentesten Sendeplatz des deutschen Linearfernsehens gehört, eben den „Tatort“-Sendeplatz, und zusätzlich in ausgewählte Kinos. Während also das Dokudrama selbst Lob verdient, hat der öffentlich-rechtliche Rundfunk einmal mehr versagt.

ARD, 9. November 2025, 21.45 Uhr sowie in der ARD-Mediathek

Sven Felix Kellerhoff ist Leitender Redakteur bei WELTGeschichte. Zu seinen Themenschwerpunkten zählen neben dem Terrorismus und der SED-Diktatur der Nationalsozialismus und dessen juristische Aufarbeitung.