Frankreich geht bewusst auf Distanz zum jüdischen Staat. Doch um die Juwelenräuber zu fassen, griff man auf eine israelische Sicherheitsfirma zurück. Darin ist ein historisches Muster zu erkennen.
Michael Wolffsohn08.11.2025, 05.30 Uhr
Französische Polizisten patrouillieren vor dem Louvre, die Juwelendiebe allerdings fassten israelische Spezialisten.
Abdul Saboor / Reuters
Jedermann erkennt: Frankreichs Sicherheitsbehörden, nicht nur die Leitung des Louvre, haben total versagt. Selbstkritisch erkannt haben das auch die Verantwortlichen in Frankreich. Sie handelten diskret und beauftragten eine israelische Sicherheitsfirma, bei der Verbrecherjagd zu helfen. Chef dieser Sicherheitsfirma ist kein Geringerer als Jacob Peri. Von 1988 bis 1995 hatte er Israels Inlandsgeheimdienst Shin Bet geleitet.
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Trotz den nicht erst seit dem Gaza-Krieg bestehenden Spannungen zwischen Paris und Jerusalem wandte sich das französische Sicherheitspersonal an eine Adresse in Israel. Zur Gesichtswahrung erfolgte die Beauftragung über die Dépendance der Israeli in Rom. Der lautstarke Boykott israelischer Verteidigungsunternehmen durch den Präsidenten Macron und der Hilferuf an die Sicherheitsfirma passen nicht zusammen. Hinzu kommt: Israels Auslandsgeheimdienst Mossad hat nicht nur in Frankreich – doch dort besonders oft –, sondern in ganz Westeuropa rechtzeitig und erfolgreich vor islamistischem Terror gewarnt.
Manchmal braucht man die Juden
Flugs sind wir beim Muster jüdischer Weltgeschichte angekommen. In ihrer rund dreitausendjährigen Geschichte wurden Juden von Nichtjuden, sogar von ihren Kritikern, Gegnern und Feinden, nur und vor allem dann toleriert oder sogar umworben, wenn man sie brauchte. Ihre jeweilige Funktion brauchte. Die Funktion, die nur oder besonders gut von Juden verfügbar war. Was mit den Juden geschah, wenn man sie nicht mehr brauchte oder glaubte, sie nicht mehr zu brauchen – dann . . . ja, dann . . . Und zwar immer wieder und oft sowie nahezu überall bereits lange vor dem Holocaust. Nicht nur in der christlichen oder der postchristlichen, ebenfalls in der islamischen Welt.
Toleranz, die Individuen oder Kollektiven nur oder vornehmlich gewährt wird, wenn man sie als Funktionsträger benötigt, sei «funktionale Toleranz» genannt. Sie ist strikt von ethischer Toleranz zu unterscheiden. Gewiss, funktionale Toleranz ist besser als keine, doch ethisch wird sie dadurch noch lange nicht, wenngleich funktional Tolerierende sich gerne mit dem Anstrich der Ethik darstellen. Gerechterweise sei zugegeben, dass die Franzosen Jacob Peri den Auftrag diskret vergaben und ihnen das Öffentlichwerden eher peinlich sein dürfte. Man kann ihnen daher nicht unterstellen, sie wollten oder würden sich als Personifizierung von Toleranz oder gar Juden- beziehungsweise Israel-Liebe präsentieren.
Nicht wesentlich anders das Muster jüdischer Weltgeschichte. Aufgrund ihrer seit rund 2500 Jahren praktizierten breiten Volksbildung – nicht wegen vermeintlicher, gar kollektiver oder genetischer Genialität – verfügten Juden früher, doch nur zeitweilig besser und mehr als Nichtjuden über das geistige Instrumentarium, um auf neue Situationen oder Herausforderungen reagieren zu können. Seit Jahrtausenden geistig trainiert und programmiert, bieten Juden Leistungen beziehungsweise Funktionen an, welche die jeweiligen Alteingesessenen (noch) nicht vorweisen können oder erst erlernen müssen. Das provoziert Neid, ein Unterlegenheitsgefühl und Aggressionen. Heute wie damals.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Juden sind nicht klüger als andere, aber historisch länger sowie breiter bildungsgeprägt.
Nutzniesser der Vertreibung
Schauen wir auf einige Beispiele aus der Geschichte. Mitte des 14. Jahrhunderts tobte die Pest in Europa. «Die Juden sind schuld!» So einfach und dumm konnte der antijüdische Mob mobilisiert werden. Klug reagierte Polens König Kasimir III., der Grosse. Mit grossem Weitblick bat er die besonders aus Frankreich und Deutschland vertriebenen Juden nach Polen und gewährte ihnen (nur funktionale?) Toleranz. Und siehe da, Juden kamen massenhaft, Polen entwickelte sich rasch als Polen-Litauen zu einer europäischen Grossmacht. Politisch, militärisch, wirtschaftlich, kulturell.
Allmählich lernten auch die nichtjüdischen Polen-Litauer, was vorher nur die Juden konnten, weil bei ihnen die Bildung kein Vorrecht der Eliten war. Zum Beispiel den fortschrittlichen Nah- und Fernhandel, der von Analphabeten eher schwer zu meistern ist. Fortan empfanden sie den einstigen Judensegen, weil Konkurrenz, als Fluch – und im Holocaust waren viele Polen und Litauer willige Gesellen des Mordmeisters aus Deutschland.
Ähnlich das Muster in ganz Osteuropa, Russland und, machen wir uns nichts vor, auch in Westeuropa und ganz gewiss in Deutschland. Endlich rückten Professoren, Mediziner, Rechtsanwälte, Journalisten, Schriftsteller und andere aus der zweiten Reihe in die erste. Nein, ermorden (lassen!) wollten die meisten Nutzniesser der Judenausschaltung nicht, aber die Früchte ihrer Vertreibung geniessen.
Das Muster ist bekannt
Schauen wir vom Abendland ins Morgenland. 1492 vertrieb Spaniens Königspaar Ferdinand und Isabella die Juden. 1497 folgte der portugiesische König diesem Beispiel der damals christlichen «Nächstenliebe». Wie weiland Kasimir der Grosse von Polen, machte sich derweil der osmanische Sultan die Dummheit seiner monarchischen Kollegen zunutze und lud die vertriebenen Juden als Modernisierer seines Reiches ein. Ja, Ende des 15. Jahrhunderts war das islamisch-osmanische Reich bereits gross und mächtig, doch mit jüdischer Hilfe wurde es noch erfolgreicher. Bis . . . das Muster ist bekannt.
Nach dem von Deutschland begonnenen und geführten gesamteuropäischen Holocaust brauchten Deutschland und Europa Juden, um zu zeigen: «Wir sind (wieder) anständige, zivilisierte Menschen. Vor allem den Juden gegenüber.» Weltweit bezweifelt kaum jemand die zivilisatorische Rückkehr Deutschlands und Europas. Stolz präsentieren die Nachfahren der Täter, Mit- und Nachläufer «europäische Werte». Als ob diese zeitlos gültig gewesen wären. Längst brauchen Deutschland und Europa die Juden nicht mehr und erst recht nicht den jüdischen Staat, um ihre Zivilität und «Moralität» zu beweisen. Jetzt wird der Spiess umgedreht und mit dem moralischen Zeigefinger auf Juden und Israel gezeigt. Funktionale Toleranz – wozu? Nicht mehr nötig.
Vom Gottes- zum Völkermord
Das Leit- und Leidmotiv jüdischer Weltgeschichte lautet: Der Jud hat seine Arbeit getan, der Jud kann gehen. Gilt dieses niederschmetternde Toleranz-Fazit nur für Juden? War oder ist Toleranz wirklich mehr als funktional bedingt? Wo und wann gab oder gibt es ethische Toleranz? Ist die funktionale Toleranz gegenüber Juden nicht sogar ein menschheitliches Paradigma?
Frankreichs Sicherheitspersonal, das die Louvre-Diebe mithilfe von Israeli jagt, ist klüger als die gegen Israel und Juden protestierenden und moralisierenden Massen, zu denen die vermeintliche Crème de la Crème des europäischen Geistes in Wissenschaft und Kultur gehört. Die einst kirchlich-scheinchristlich geprägten Vorfahren der scheinklugen Moralisten von heute hatten den Juden «Gottesmord» vorgeworfen. Die religionsfernen Nachfahren entnehmen diesem antijüdischen Totschlagargument den Gottesbezug und schleudern den israelischen Juden den Vorwurf des Völkermords entgegen. Dasselbe Instrument, nur anders verpackt.
Die scheinklugen Moralisten Europas interessieren sich nicht für Kleinigkeiten wie die Juwelen aus dem Louvre. Sie kämpfen lieber gegen die Bekämpfer der Hamas-Terroristen, die sie als Befreier feiern, und verweigern Israel Waffen, die es entweder selbst herstellen oder woanders kaufen kann.
Bezogen auf Juden und Israel übersehen Europas «Moralisten» die fundamentale historische Veränderung. Die Voraussetzungen der funktionalen Toleranz funktionieren nicht mehr, denn seit Israels Bestehen müssen Juden nirgends um Toleranz betteln. Ausserdem wird der jüdische Staat – zumindest einstweilen – auch von und in den Staaten jener «Moralisten» gebraucht. Als Garant ihrer Sicherheit und damit ihrer Freiheit.
Ohne Drohnen, Anti-Raketen-Raketen aus Israel und ohne israelische Hilfe bei der Verhinderung des meist islamistischen Terrors ist ihre Sicherheit durch ihre selbstmörderische «Moral» bedroht. Ihr Zorn richtet sich gegen diejenigen, die sie beschützen. Das gilt in Bezug auf Israel, mit und ohne Netanyahu. Das gilt auch, ganz nebenbei, in Bezug auf die USA, mit und ohne Donald Trump. Ohne Sicherheit keine Freiheit. Bildung schützt vor Dummheit nicht. Auch nicht vor Heuchelei.
Michael Wolffsohn ist Historiker und Publizist sowie u. a. Autor von «Eine andere Jüdische Weltgeschichte» und «Wem gehört das Heilige Land?».