Manche Gehirne vergessen langsam. Aber was, wenn man es schützen könnte – mit einer Impfung? Eine neue, britische Studie legt genau das nahe: Wer sich gegen Gürtelrose impfen ließ, entwickelte seltener eine Demenz. Das traf vor allem auf Frauen zu.
Die Studie ist jetzt im Fachjournal „Nature“ erschienen. Der Tagesspiegel hatte sie bereits 2024 als Preprint aufgegriffen – damals war sie noch nicht von anderen Forscherinnen und Forschern begutachtet.
Das Team um Pascal Geldsetzer von der Uni Stanford nutzte ein besonderes Studiendesign: ein „natürliches Experiment“. Im September 2013 begann in Wales ein Impfprogramm gegen Gürtelrose, allerdings mit einer starren Altersgrenze. Alle, die ab dem 2. September 1933 geboren und noch keine 80 waren, konnten sich mit dem Lebendimpfstoff Zostavax gegen Gürtelrose impfen lassen. Wer vor dem 2. September 1933 geboren war, hatte keinen Anspruch mehr.
Klingt wie ein bürokratisches Detail, erwies sich aber als Glücksfall für die Forschung.
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Denn damit ließen sich zwei nahezu identische Gruppen vergleichen. Die Forschenden werteten die elektronischen Gesundheitsdaten von mehr als 280.000 Menschen über sieben Jahre aus. Bei etwa 35.000 wurde in dieser Zeit eine Demenz diagnostiziert.
Die Gürtelrose-Impfung schützt nicht nur gegen eine extrem schmerzhafte Erkrankung, sondern möglicherweise auch vor einer der bedrückendsten Krankheiten des Alters.
Martin Korte, Neurobiologe an der TU Braunschweig
Geimpfte erkrankten seltener: Ihr Risiko, sich mit dem Gürtelrose-Erreger anzustecken, war im Schnitt um 20 Prozent geringer im Vergleich zu Ungeimpften. Die Wahrscheinlichkeit, eine Demenzdiagnose zu erhalten, sei durch die Impfung um 3,5 Prozentpunkte gesenkt worden, so die Forschenden. Umgerechnet bedeutet das: Von 100 nicht geimpften Personen bekamen rund 18 eine Demenzdiagnose, bei Geimpften waren es nur etwa 14 bis 15.
Besonders auffällig: Frauen profitierten stärker. Bei ihnen sank die Zahl der Demenzdiagnosen um 5,6 Prozentpunkte. Bei Männern war der Unterschied mit 0,1 Prozentpunkten statistisch nicht signifikant.
Schlummerndes Virus
Der zugrundeliegende Erreger, das Varizella-Zoster-Virus, schlummert in den meisten Menschen. Der Erreger gehört zu den Herpesviren und löst Windpocken aus. Später verbleibt es im inaktiven Zustand im Körper, in den Nervenzellen. Wird es wieder aktiv, löst es Gürtelrose aus. Mit dem Alter steigt das Risiko, daran zu erkranken, weil das Immunsystem anfälliger für Krankheiten wird. Seit Langem wird spekuliert, dass Herpesviren wie dieses eine Rolle bei neurodegenerativen Erkrankungen spielen. Dass die Herpes-Zoster-Impfung dagegen schützen könnte, vermuten Forschende bereits seit einigen Jahren.
„Die Beobachtung, dass zwei sehr unterschiedliche Impfstoffe gegen das Virus das Risiko für Demenz senken, spricht dafür, dass das Virus das Risiko für die Demenz erhöht“, sagt Klaus Überla, Direktor des Virologischen Instituts in Erlangen. Wahrscheinlich, so Überla, werde durch die Impfung die Reaktivierung des Virus verhindert – und damit auch entzündliche Prozesse im Nervensystem, die das Fortschreiten einer beginnenden Demenz beschleunigen könnten. Er geht davon aus, dass die Impfung gegen Gürtelrose die Demenz nicht „komplett verhindert“, sondern das Auftreten der Demenz „verzögert“.
„Die Gürtelrose-Impfung schützt nicht nur gegen eine extrem schmerzhafte Erkrankung, sondern möglicherweise auch vor einer der bedrückendsten Krankheiten des Alters“, sagt Martin Korte, Neurobiologe an der TU Braunschweig. Er hält die neue Studie für „die beste bisher veröffentlichte Arbeit über den Zusammenhang einer Virusinfektion mit einem erhöhten Demenz-Risiko“.
Der Erreger der Gürtelrose: das Varizella-Zoster-Virus. Gürtelrose ist eine schmerzhafte Nervenerkrankung, die typischerweise mit einem Hautausschlag einhergeht.
© Getty Images/Science Photo Library – HEATHER DAVIES
Seine Hypothese: Eine Reaktivierung des Virus führt zu stillen Entzündungen im Gehirn – und die beschleunigen degenerative Prozesse. Die Impfung wirke hier wie eine Art Schutzschild. Und das nicht nur direkt, sondern vielleicht auch indirekt: Daten würden zeigen, dass eine „milde Immunanregung“ sich positiv auf die „Widerstandskraft des Gehirns“ auswirke.
Warum schützt die Impfung vor allem Frauen?
Ein der wohl auffälligste Aspekt der Studie: Besonders Frauen schütze die Impfung. Warum? Die geschlechterspezifische Immunreaktion könnte eine Rolle spielen. Frauen haben oft eine stärkere Immunantwort als Männer. Und sie sind häufiger von Autoimmunerkrankungen betroffen – auch das könnte mitreinspielen. Korte vermutet: „Neuroinflammatorische autoimmun-getriggerte Prozesse werden möglicherweise durch die Impfung reduziert, was vor allem die Frauen besser schützt“.
André Karch, Leiter der Klinischen Epidemiologie der Uniklinik Münster, sagt, dass ein alleiniger kausaler Effekt bei Frauen nicht „plausibel“ erscheine und eher darauf hindeute, dass vielleicht doch Verzerrungen bestehen. „Es sind noch viele weiterführende Studien notwendig, ehe eine Berücksichtigung des Endpunkts Alzheimer-Demenz bei der Anpassung der Zoster-Impfempfehlung infrage kommt.“
Die Studie untersuchte den heute in Deutschland nicht mehr empfohlenen Lebendimpfstoff Zostavax. Seit 2018 empfiehlt die Ständige Impfkommission den besser wirksamen Totimpfstoff Shingrix. Die gute Nachricht: Auch dieser schützte laut einer US-Studie vor Demenz – und zwar Frauen und Männer. „Daher ist davon auszugehen, dass der in Deutschland empfohlene Proteinimpfstoff auch besser vor der Demenz schützt als der Lebendimpfstoff“, so der Virologe Überla.
Noch keine Empfehlung
Und was bedeutet das jetzt für Deutschland? Die Empfehlung der Stiko bleibt unverändert: Menschen ab 60 – sowie Risikopatienten ab 50 – sollen sich gegen Gürtelrose impfen lassen. Die Studie liefert dafür nun ein weiteres starkes Argument. „Die Effektstärke der Impfung auf das Verhindern oder Verzögern einer Demenz ist so groß, dass dies ein Argument für die Impfung über den Schutz vor einer Gürtelrose hinaus ist. Es ist zu diskutieren, ob nicht generell die Impfung ab 50 Jahren zumindest für Frauen empfohlen werden sollte“, sagt Peter Berlin. Er ist Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie.
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Allerdings ist die Impfquote in Deutschland bislang niedrig: Gerade einmal 11,5 Prozent der Menschen erhalten die erste, nur 7,7 Prozent die zweite Impfdosis. Das müsse sich ändern, fordert Hartmut Hengel von der Stiko-Arbeitsgruppe Zoster. Denn: „Die Prävention von Demenzerkrankungen durch die Zosterimpfung ist gesundheitsökonomisch vorteilhaft – und dürfte zukünftigen Therapien wie Antikörperbehandlungen ebenbürtig oder sogar überlegen sein.“
Die Impfung gegen Gürtelrose schützt zuverlässig vor der extrem schmerzhaften Erkrankung und möglicherweise auch vor dem schleichenden Vergessen.