Viele Menschen sitzen in einem Museum und hören einer Vortragenden zu

AUDIO: Geschichtenerfinden im Museum für Menschen mit Demenz (3 Min)

Stand: 08.11.2025 06:00 Uhr

Im Herzog Anton Ulrich-Museum in Braunschweig kommen Menschen, die an Demenz erkrankt sind, regelmäßig in der Gemäldegalerie zusammen und entwickeln kreative Geschichten zu verschiedenen Kunstwerken – und das macht glücklich.

von Klara Jakubzik

Die Treffen ermöglichen es den Erkrankten und ihren Angehörigen, aus dem oft schwierigen Alltag auszubrechen. Die Erkrankten nutzen, was ihnen trotz Demenz bleibt – ihre Fantasie. Dieses Angebot gibt es seit zehn Jahren.

„Er ist gut rasiert“, „Er hat ein Doppelkinn“, „Er steht gut im Futter“: So tragen Teilnehmende ihre Eindrücke von einem Bild zusammen. Die Person, die hier gerade beschrieben wird, ist Jean-Baptiste Tavernier, ein französischer Reisender, der im 17. Jahrhundert lebte. Aber das wissen die Männer und Frauen nicht, die auf Stühlen vor dem Gemälde im Museum sitzen. Nach und nach entwickeln sie eine Geschichte zu dem, was sie sehen. Sozialpädagogin Simone Weiss leitet das Gespräch mit gezielten Fragen an. „Wie alt könnte der Mann sein?“, fragt sie. „48“, „50“, „auch so Mitte 50“, antwortet das Publikum.

Kreativität bleibt länger als Erinnerung

Alle Teilnehmenden eint eines: Sie sind an Demenz erkrankt. Die Methode, die hier angewendet wird, heißt „TimeSlips“, auf Deutsch „Zeitschnipsel“. Sie wurde in den 90er-Jahren von einer Theaterwissenschaftlerin in den USA entwickelt. Durch offene Fragen soll die Kreativität angeregt werden. Auch bei einer fortschreitenden Erkrankung bleibt die Kreativität nämlich lange erhalten, da die Demenz in einem anderen Bereich des Gehirns beginnt, erklärt Simone Weiss. Sie ist eine von wenigen zertifizierten „TimeSlips“-Moderatorinnen in Deutschland.

„Ich finde es einfach toll, was die Menschen mit Demenz für eine Fantasie haben. Es muss nicht stimmen und auch nicht zusammenpassen. Manchmal kommen einfach ganz schöne, verrückte, skurrile Geschichten raus. Aber es hat auch was mit ihnen zu tun, oft mit ihren Wünschen. Es ist frei erfunden. Das ist einfach wunderbar.“

Eine Person hält eine Kalimba in den Händen. Das Daumenklavier mit Metallzungen wird gespielt, während die Person ein helles, lockeres Hemd trägt. Die Szene ist ruhig und weich belichtet.

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Es gibt keine falschen Antworten

Aus dem französischen Reisenden auf dem Gemälde haben die Teilnehmenden mittlerweile einen niederländischen Kaufmann namens Jan van Helsen gemacht, der reich, aber nicht glücklich ist und bei einem Schiffsverkauf übers Ohr gehauen wurde. „Der ist beschissen worden“, sagt ein Teilnehmender und andere lachen. „Er war zu dumm“, sagt jemand und bekommt Zustimmung. Alle können ihre Ideen einbringen, falsche Antworten gibt es nicht. Manchen merkt man an, dass es ihnen schwerfällt, Worte zu finden. Aber dann wissen sie sich mit Lauten und Gesten zu helfen. Eine schöne Erfahrung, sagt Simone Weiss.

„Dann haben sie das Gefühl, sie werden noch gebraucht“, so Weiss. Die Teilnehmenden kommen zu den Treffen mit ihren Stärken, während im Alltag stärker das zutage kommt, was sie nicht mehr können, betont sie.

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Tiefgründige Gespräche bei Kaffee und Kuchen

Zum Team von Simone Weiss gehört immer auch eine Person, die die Geschichte mitschreibt und am Ende vorliest. Danach setzen sich alle zusammen ins Museumscafé. Bei Kaffee und Kuchen greifen die Teilnehmenden einen Aspekt aus der Geschichte noch einmal auf und beziehen ihn auf ihr eigenes Leben. Dabei entstehen tiefgründige Gespräche, erzählt Simone Weiss. „Wir hatten zum Beispiel einmal das Thema erfüllte und unerfüllte Träume. Und manchmal entsteht da auch noch was draus. Eine Frau sagte zum Beispiel mal: ‚Ich möchte schon noch jemanden kennenlernen, auch wenn ich 84 bin.‘ Dann sind wir in ein Tanzcafé gegangen und haben es versucht – und haben sie glücklich gemacht“, erzählt die Sozialpädagogin.

Glücklich gehen auch nach diesem Treffen alle nach Hause. Am Ende des Jahres werden sie eine Mappe bekommen mit allen Bildern und den Geschichten, die sie dazu entwickelt haben. So können sie sich alle Geschichten trotz Demenz immer wieder in Erinnerung rufen.

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