Bärbel Weyersberg wirkt nicht wie jemand, der mal Probleme mit Piraten haben könnte. Sie fährt ja gar nicht zur See, sondern ist Nachtwache in einem Altenheim. 61 Jahre alt ist die Frau, Mitglied beim Deutschen Roten Kreuz seit dem achten Lebensjahr. „Es zwingt mich ja niemand, das hier zu machen. Ich mache das gern“, sagt Bärbel Weyersberg, die seit Jahren die Kleiderkammer in Schwelm (Ennepe-Ruhr-Kreis) leitet.

An einem nasskalten Oktobertag steht sie in der Turnhalle, in der die Altkleider abgegeben werden, wo sie sortiert und zum Verkauf an Bedürftige bereitgelegt werden: Jacke zwei Euro, Schuhe ein Euro, Pullover 50 Cent. Neben Bärbel Weyersberg: Ein Berg voller blauer Säcke, 200 bis 300 Stück, gefüllt mit Kleidung. Kleidung, die sonst einmal im Monat abgeholt wurde, als damit noch Geld zu verdienen war.

Ein Berg voller Kleidung, der nicht abgeholt wird

Kleidung, die jetzt plötzlich niemand mehr haben möchte. Der Wagen eines Entsorgungs- und Recycling-Spezialisten, der all das sonst abholte, sagt die Leiterin der Kleiderkammer, sei überraschend nicht mehr gekommen. Schuld daran sind offenbar: Unter anderem die Piraten, aber dazu später mehr. „Wenn das so weitergeht“, sagt Bärbel Weyersberg und lacht ausnahmsweise mal nicht, weil die Säcke bald die Eingangstür zuwuchern, „dann können wir hier dichtmachen.“

Das Geschäft mit Altkleidern scheint ein aussterbendes zu sein. In Lüdenscheid und Balve zieht das Deutsche Rote Kreuz seine Altkleidercontainer aus dem Stadtgebiet ab, in Herdecke könnte schon bald ein ähnliches Szenario drohen, in Hemer sind ebenfalls Container abgebaut worden, dort und in Iserlohn herrscht mittlerweile ein Annahmestopp für Alttextilien. In Hagen-Hohenlimburg ist eine traditionsreiche Altkleidersammelaktion kurzfristig abgesagt worden. Auch in Brilon gab es Ärger mit den Containern. Überall die gleichen Probleme. Sichtbar werden sie auch in Schwelm.

Die Menschen werden immer gewissenloser. Aber wir dürfen den Glauben an das Gute nicht verlieren.

Anja Wessels, Ehrenamtliche Helferin in der Kleiderkammer

Beherzt greift Anja Wessels mit der bloßen Hand in die Tasche einer Fleecejacke. Wohlgemerkt: nicht ihrer Jacke, sondern einer völlig fremden Jacke. „Man darf nicht pingelig sein“, sagt sie, lächelt und spürt etwas an den Fingern, das sie ans Licht befördert: eine Kastanie. Erleichterung. Ein Käfer krabbelt aus dem Textil über den Tisch, auf dem die Kleidungsstücke sortiert werden. Von Hand. Von Menschen. Menschen wie Anja Wessels, die sich seit zehn Jahren ehrenamtlich bei der Kleiderkammer Schwelm engagiert. „Um der Gesellschaft etwas zurückzugeben“, wie die 55-Jährige sagt. Gute Kleider zum Beispiel. Aber die werden weniger.

Zwei Drittel der Turnhalle in Schwelm, in der die Kleiderkammer des Roten Kreuzes und der Caritas zu finden ist, dienen als Verkaufsraum. Im letzten Drittel, getrennt durch eine Sichtschutzwand, wird die neu eingetroffene Ware gesichtet und sortiert.

Minderwertige Qualität ist ein Problem

Anja Wessels faltet eine gut erhaltene Regenjacke. Die gelangt in den Verkauf. Sie faltet einen Pullover mit leichten Gebrauchsspuren. „Den will hier keiner. Der geht in die Ukraine.“ Ein ehrenamtlicher Fahrer fährt regelmäßig in das vom Krieg gebeutelte Land, wo viele Menschen dankbar für jedes Kleidungsstück seien.

Neben Anja Wessels steht Barbara Dewath an der Tischreihe. Sie zieht eine verdreckte Matschhose für Kinder aus dem Sack. Mit spitzen Fingern führt sie sie an die Nase. „Speziell“, sagt sie und kräuselt die Stirn. Mit anderen Worten: stinkt. Aus einer Handtasche holt die Rentnerin Taschentücher und einen Lippenpflegestift, dazu eine Packung Dragees für den Darm und Tabletten gegen Halsschmerzen.

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Neulich hätten sie hier eine tote Maus in der Tasche einer Jacke gefunden. Anja Wessels fasste hinein. „Ich dachte, wir hätten schon alles gesehen“, sagt sie, ohne die Miene zu verziehen. Eine Pistole sei auch schon zwischen den Textilien gewesen, die sie dann zur Polizei gebracht hätten. Wie sich herausstellte: eine Schreckschusspistole. Was noch? Gebrauchte Kondome und Windeln, Sexspielzeug, lebende Insekten, defekte Elektronikartikel. Vor allem Altkleidercontainer, aber auch die Kleiderkammer würden nicht selten als Möglichkeit zur kostenfreien Entsorgung angesehen. „Die Menschen“, sagt Anja Wessels, „werden immer gewissenloser. Aber wir dürfen den Glauben an das Gute nicht verlieren.“ Und auch nicht den an gute Kleidung.

Manches ist zerfressen von Motten. Vergilbt und stinkend vom Nikotin. Und viel Ware von minderwertiger Qualität sei dabei. Das ist auch ein Teil des Problems: Es gibt zu viel Billig-Kleidung, zu viele Textilien. Auch das macht das Geschäft mittlerweile so wenig einträglich.

Schwelmer Kleidrladen in Schwelm

Sortiertisch: Barbara Dewath (links) und Anja Wessels bei der Arbeit in der Kleiderkammer in Schwelm.
© FUNKE Foto Services | Uwe Möller

„Viele Menschen kaufen nur noch Schund“, sagt Bärbel Weyersberg. Ein paar Meter entfernt auf einer Kleiderstange hängt eine Winterjacke eines namhaften Herstellers. „So was ist die Ausnahme“, sagt Weyersberg und zeigt auf das Markenstück. Die Regel: Fast Fashion von Textildiscountern, wenige Male getragen und aussortiert.

Das Entsorgungs- und Recycling-Unternehmen, das sonst die Säcke an der Schwelmer Kleiderkammer abgeholt hat, ist die AHE. Nach einer Anfrage dieser Zeitung ließ der Spezialist mit Sitz in Wetter die Säcke bei der Kleiderkammer noch ein letztes Mal abholen – auf eigene Kosten, wie Heike Heinzkill, Leiterin des Kommunalvertriebs, sagt. Waren die Erlöse zuletzt schon gering, seien sie aktuell noch weiter zurückgegangen – bis auf null. „Das System hat einen kompletten Zusammenbruch erlitten“, sagt Heike Heinzkill. Seit Juli gehe kaum noch etwas. Kleidungskollaps.

Seecontainer, Tariflöhne, fehlende Fachkräfte, Piraterie

Die AHE lasse die Kleidung nach Bremerhaven zu einem Verwertungsdienstleister bringen, von dort gelange sie in die textile Weiterverarbeitung, in Second-Hand-Shops oder auf weltweite Märkte. Aber, sagt Heinzkill, alles werde immer schwieriger und immer teurer: Seecontainer seien Mangelware, Tariflöhne stiegen, es fehlten Fachkräfte – und durch Piraterie verlängerten sich die Seewege.

Und am Ende steht Bärbel Weyersberg in Schwelm auch wegen der Piraten neben einem Berg von Säcken. Für den Moment ist das Problem gelöst, sie sind ja noch einmal abgeholt worden. Wie es in Zukunft sein wird, steht noch nicht fest. Sie hofft mit ihren 15 ehrenamtlichen Helfenden auf eine gute Lösung. Ihre Mutter hat die Kleiderkammer in Schwelm einst mit aufgebaut. „Die Menschen brauchen die Kleidung“, sagt Bärbel Weyersberg. „Und für viele ältere Menschen ist die Kleiderkammer total wichtig, weil sie wissen, dass gute Sachen noch für jemanden etwas taugen. Das macht sie glücklich und das macht uns glücklich.“ Sie ahnt, dass diese Zeiten irgendwann vorbei sein könnten.

Altkleider in Westfalen-Lippe

Das Rote Kreuz in Westfalen-Lippe, neben zum Beispiel Malteser Hilfsdienst, Kolping oder Caritas nur eine der karitativen Institutionen, die Altkleider sammeln, sei „bemüht, die Altkleidersammlung beizubehalten. Dennoch stoßen einzelne Verbände bei der Altkleidersammlung über Container an ihre Grenzen und stellen diese deshalb ein“, heißt es auf Nachfrage. Ein Grund: Der Müll in den Säcken. Das Kreislaufwirtschaftsgesetz und die damit zusammenhängende Getrenntsammelpflicht, die es seit Januar 2025 verbietet, Kleidung über den Hausmüll zu entsorgen, trage dazu bei.

Aber vor allem die Preisentwicklung bei Alttextilien gehöre zu den Herausforderungen. Die Kleidung, die in den Kammern nicht benötigt würde, ginge an Verwertungsgesellschaften, die die Rohstoffe zu Fußmatten, Autositzbezügen oder Putzlappen weiterverarbeiteten. Hierfür erhält das DRK in der Regel eine Vergütung, die „einen wichtigen Beitrag zur Finanzierung unserer Rotkreuzarbeit leistet. In den vergangenen Monaten ist diese Vergütung leider deutlich zurückgegangen“.