Stuttgart. Eine Ausstellung in kompletter Dunkelheit: Auf einem „Blind Date mit Stuttgart“ sollen Sehende die Erfahrungen, die Blinde und Menschen mit Seheinschränkung im städtischen Alltag machen, erleben können. „Dieser Perspektivwechsel ist etwas, das die Ausstellung auch für mich besonders macht“, sagt Matthias Nagel. Er ist Kurator der Ausstellung im Stadtpalais und seit dem jungen Erwachsenenalter erblindet. Matthias Nagel stellt sich uns als Matze vor und wird mich und vier andere Journalistinnen an diesem Donnerstagnachmittag durch die Ausstellung, die wirklich eine besondere Kulturerfahrung werden soll, führen.
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Matze führt uns in den ersten komplett abgedunkelten Raum. Zunächst schenkt uns eine kleine Lampe, fast wie beim Camping, noch etwas Licht aber schon von Anfang an wird für mich die Orientierung schwer. Ich stolpere fast über eine Bank, auf der wir in der Ausstellung ankommen und uns an die Dunkelheit gewöhnen sollen. Mich überkommt ein Gefühl der Enge: Plötzlich gar nichts mehr sehen und mit vier mir fremden Personen in einem Raum zu sein – gewöhnungsbedürftig. „Ich werde euch in der nächsten Stunde durch die Ausstellung führen. Dabei werde ich euch an der Hand und an der Schulter berühren, um euch zu leiten“, sagt Matthias Nagel.
Kurator der Stadtpalais-Ausstellung: „Diese Offenheit würde ich mir wünschen“
Durch seine Erklärungen und die direkte Ansprache der Teilnehmerinnen – er hatte sich direkt unsere Vornamen gemerkt – versuche er außerdem mögliche Ängste abzubauen. Die Dunkelheit überfordere viele. „Mir ist es wichtig, dass ich zu Beginn meine Berührungen gleich einordne“, sagt Nagel später im Gespräch. „Schließlich bin ich als Mann mit vier Frauen alleine in dieser Ausstellung.“ In Deutschland nehme er eine gewisse Distanz zu Berührungen wahr – anders als in anderen Ländern. Für Menschen mit Seheinschränkung eine besondere Herausforderung. Denn im Alltag würde es helfen, wenn Menschen Hilfe anbieten und er sich zur Not unterhaken könne, um Wege, die er noch nicht verinnerlicht habe, schneller zu erschließen. „In Deutschland ist das System sehr separierend, die Berührungspunkte zwischen Menschen ohne und mit Behinderung sind nicht gegeben. Diese Offenheit würde ich mir aber wünschen“, sagt Nagel.
Offenheit versucht das Stadtpalais mit dieser Ausstellung zu erzeugen. Vorbild für die Dauerausstellung sei das Dialogmuseum in Frankfurt gewesen. Dort können Menschen Alltagssituationen von Sehbeeinträchtigten nacherfahren, im Stuttgarter „Blind Date“ hingegen soll die Stadt fühl- und hörbar gemacht werden.
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Hauptbahnhof Stuttgart: Voller Barrieren
Fühl- und hörbar wird vor allem auch unsere erste Station innerhalb der Ausstellung: Wir befinden uns am Hauptbahnhof Stuttgart. Sich hier mit neuer Wegeführung, wechselnden Gleisen und Verspätungen zurechtzufinden, ist schon als Sehende oft eine Herausforderung. Jetzt mit Blindenstock und in voller Dunkelheit ist es für mich fast unmöglich, mich auf etwas anderes als die Blindenlinie zu konzentrieren. Mitbekommen, wohin der Zug nun fahren soll, habe ich nicht. Der Hauptbahnhof in Stuttgart sei auch für Matthias Nagel voller Barrieren, Stadtbahnstationen in Stuttgart hingegen eher weniger. Hier halte der Zug meistens im angegebenen Bereich und die Einstiegshöhen seien niedrig.
Stadtbahnfahren in Dunkelheit
In einer nachgebauten Stadtbahn fahren wir vom Hauptbahnhof weiter zum Charlottenplatz. Erneut laufe ich Gefahr, mich auf den Schoß meiner Mitteilnehmerin zu setzten – nachdem ich ihr schon mehrfach meinen Blindenstock in die Fersen gerammt habe. Langsam sind zumindest im Miteinander die Barrieren gefallen und sie führt mich mit ihrer Hand auf einen freien Sitzplatz. Im Alltag wäre das ein No-Go. „Man kann immer gerne Hilfe anbieten, darüber würde ich mich sehr freuen“, sagt Matthias Nagel. „Aber einfach anfassen oder mich sich unter den Arm klemmen und loslaufen geht natürlich gar nicht“, sagt er.
Unsere Stadtbahnfahrt führt uns zur Markthalle: Kleine Dosen mit verschiedenen Gewürzen sind auf einem Holztisch drapiert. Hier soll vor allem der Riechsinn wahrgenommen und trainiert werden. Mir fällt aber vor allem auf, wie viel bewusster ich die Textur des Holztisches wahrnehme.
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Einkaufen mit Seheinschränkung: Matze bestellt online beim Supermarkt
Wenn ich an den Einkauf in einer Markthalle denke, kommen mir vor allem Menschenmassen, viele Gerüche, Obst und Gemüse in unterschiedlicher Qualität und Preisunterschiede in den Sinn. Stellt der Einkauf auf Märkten für Matze eine Herausforderung dar? „Ganz im Gegenteil. Auf dem Markt oder beim Metzger kann ich wenigstens mit den Menschen reden“, sagt er. Meistens bestelle er seine Einkäufe im Supermarkt aber online vor. Mit der Vorlesefunktion könne er so ganz in Ruhe auswählen, was er braucht und möchte und was nicht.
Vorlesefunktionen seien generell sein größter Alltagshelfer. „Die meisten Blinden sind deshalb auch Apple-Nutzer. Bei anderen Betriebssystemen muss man sich erst Programme herunterladen und die Geräte einrichten, damit sie Apps oder Texte vorlesen. Bei Apple ist das vorinstalliert“, sagt Matthias Nagel. Das habe ihm auch das Studium an der Hochschule der Medien ermöglicht. „Die Hochschule der Medien war in dieser Hinsicht für mich ein Glück. Als Medien-Uni gab es dort schon viel, was an anderen Unis erst Jahre später kam – dass wir Vorlesungen schon vorab zum Herunterladen hatten zum Beispiel.“ Trotzdem betont er: Studieren mit Behinderung ist immer noch eine Seltenheit. „Du musst für dich und deine Rechte einstehen – und das seit dem ersten Semester“, sagt er.
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In der Dunkelheit: Meine Körperwahrnehmung verändert sich
Immer wieder bemerke ich, wie ich nach Licht suche. Rauchmelder blinken, durch einzelne Spalte kommen schmale Lichtstrahlen. Was mir aber auch auffällt: Meine Körperwahrnehmung verändert sich. Während ich sonst meistens darauf achte, ob ich interessiert wirke, wie meine Körperhaltung ist und wie ich sitze, ist mir das in der Dunkelheit vollkommen egal geworden. Die Größe des Raumes kann ich nur anhand der Entfernung der jeweiligen Stimmen wahrnehmen, auch die anderen Teilnehmerinnen unterscheide ich an ihrer Stimme. An ihre Körpergröße oder ihre Kleidung kann ich mich bald schon nicht mehr erinnern.
Kurz bevor wir die Ausstellungsräume verlassen, schaltet Matze die Campinglampe wieder ein. Ihr Licht erscheint uns jetzt deutlich heller als vorher. Das gehe den meisten so.
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Blind Date mit Stuttgart: Öffentliche Führungen
Öffentliche Führungen durch die Ausstellung finden immer samstags und sonntags um 14, 15, 16 und 17 Uhr und immer freitags um 18, 19 sowie 20 Uhr statt. Eine Voranmeldung ist nicht möglich, es können allerdings pro Führung nur bis zu sechs Personen teilnehmen. Um die Führung pünktlich zu beginnen, wird empfohlen, etwa 30 Minuten vor Beginn im Museum zu sein. Der Treffpunkt ist 15 Minuten vor Führungsbeginn. Die Führungen kosten vier Euro, ermäßigt drei Euro. Kinder können ab acht Jahren an der Führung teilnehmen. Mehr Informationen finden Sie auf der Seite des Stadtpalais’ .