Alles deutet auf einen Wortbruch der britischen Schatzkanzlerin hin. Er könnte die Labour-Partei noch tiefer in die Krise stürzen.

Rachel Reeves bei ihrer aufsehenerregenden Rede zum nächsten Budget vom Dienstag.Rachel Reeves bei ihrer aufsehenerregenden Rede zum nächsten Budget vom Dienstag.

Justin Tallis / Pool

Vor einem Jahr versprach die Finanzministerin Rachel Reeves, sie werde die Steuern nicht erhöhen. Angesichts der Schieflage der Wirtschaft sieht sie nun offenbar keinen anderen Ausweg mehr, als ihr Versprechen zu brechen. Am 26. November wird das Budget vorgelegt, und je länger, desto deutlicher bereitet sie die Bevölkerung auf die bittere Medizin vor.

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Verschuldung von über 3 Billionen Franken

Die Inflation ist hoch, die Produktivität klein, das Wachstum lässt auf sich warten. Die gigantische Verschuldung des Staates beträgt mehr als 3 Billionen Franken. Das ist so viel wie die ganze Wirtschaftsleistung Grossbritanniens; so etwas war zum letzten Mal vor sechzig Jahren der Fall. 10 Prozent der Steuereinnahmen werden gegenwärtig allein benötigt, um die Schuldzinsen zu bezahlen.

«Alle müssen etwas beitragen, um die Sicherheit der Wirtschaft sicherzustellen und die Zukunft etwas heller zu machen», sagte Reeves an der Downing Street am Dienstag. Auf kritische Nachfragen, bei denen sie an ihr Steuerversprechen erinnert wurde, entgegnete sie, sie tue nicht, was populär, sondern was richtig sei.

Inzwischen hat Reeves auch das Office for Budget Responsibility, den unabhängigen Wächter über die Staatsfinanzen, informiert, dass eine Erhöhung der Einkommenssteuer eine der geplanten Massnahmen sei, um den öffentlichen Haushalt zu sanieren.

Das ist ein eklatanter Widerspruch zu den Aussagen, die sie im Oktober 2024 gemacht hatte: «Der arbeitenden Bevölkerung sage ich: Ich werde weder die nationale Versicherung noch die Mehrwertsteuer noch die Einkommenssteuern erhöhen. Das ist ein gemachtes und gehaltenes Versprechen.» Sie wiederholte es im Juni dieses Jahres. Der Bruch dieses Versprechens wird ihr, ökonomische Vernunft hin oder her, als Vertrauensbruch und Verrat ausgelegt werden – vor allem, weil auch schon vor einem Jahr die desolaten Finanzverhältnisse offensichtlich waren.

Letzte Erhöhung vor fünfzig Jahren

Das Problem ist, dass die Labour-Regierung von Premierminister Keir Starmer ohnehin schon in einem beispiellosen Popularitätstief steckt.

Ein «Times»-Kommentator schrieb, ein solcher Verrat werde Reeves das Genick brechen, will heissen: Er würde zu ihrem Rücktritt führen. Und die Labour-Partei werde es weitere Wähler kosten. Andere Kommentatoren sagten, dass die Regierung ihr Umfragetief als Chance sehe, um harte Entscheidungen zu fällen. Nach dem Motto: Schlimmer kann es nicht mehr werden, wir haben nichts zu verlieren.

Eigentlich gilt Reeves als wirtschaftsfreundlich. Die 46-jährige Absolventin der renommierten London School of Economics ist die erste Frau im Schatzkanzleramt. Noch vor ihrem Antritt empfahl sie sie sich mit den Worten: «Ich werde mit eiserner Disziplin regieren und Stabilität in die öffentlichen Finanzen bringen.»

Aber ihr Handlungsspielraum ist beschränkt. Als sie bei der Sozialhilfe sparen wollte, musste sie nach dem Druck aus der eigenen Partei zurückkrebsen. Sie ist in einem Dilemma. Entweder bricht sie das Versprechen, die Steuern nicht zu erhöhen, oder jenes, die Staatsfinanzen in Ordnung zu bringen. So oder so wird sie sich unbeliebt machen. Erhöhungen der Einkommenssteuer sind in Grossbritannien fast ein Tabu. Zum letzten Mal wurde der Steuersatz 1975 von 33 auf 35 Prozent angehoben. Inzwischen – nach den Steuersenkungen der Thatcher-Ära – beträgt er 20 Prozent.

Nun ist laut der «Times» die Rede von einer Erhöhung sowohl der Einkommensteuer wie auch der Sozialversicherungsbeiträge um 1 bis 2 Prozent, wobei niedrige Einkommen ausgenommen sein sollen. Im Gespräch ist auch eine Wegzugssteuer für wohlhabende Personen, die das Land aus fiskalischen Gründen verlassen.

Die Brexit-Folgen sind nicht länger tabu

Die Labour-Partei macht für die wirtschaftliche Misere vor allem die Konservativen verantwortlich sowie den Brexit-Vorreiter Nigel Farage. Letzteres ist insofern bemerkenswert, als bei der Labour-Regierung bisher das ungeschriebene Gesetz galt, die ganze Brexit-Frage zu umschiffen, um die EU-Gegner unter den Wählern nicht zu verstimmen. Damit scheint jetzt Schluss zu sein, da Farages Partei Reform UK inzwischen der Hauptkonkurrent von Labour ist und nicht mehr die Tories. Also schiesst man auf ihn, wann immer man kann.

Schon bei der Labour-Parteikonferenz im Oktober sagte der Premierminister Starmer, von dem neuen Land, das Farage für die Zeit nach dem Brexit versprochen habe, könne keine Rede sein. Tatsächlich hätten die selbsternannten Champions der Arbeiter gelogen, ein Chaos angerichtet und sich nachher einfach abgewendet. Auch das Problem der illegalen Migration vom Festland hätte man innerhalb der EU leichter lösen können, sagte er. Und nun hat auch Reeves die wirtschaftliche Misere in Verbindung mit dem Brexit gebracht, der «ernste und langanhaltende Konsequenzen» hat, wie sie sagte. Darüber hinaus machte sie Trumps Zollpolitik und Engpässe in der Lieferkette für die wirtschaftliche Stagnation verantwortlich.

«Reeves hat uns eine ganze Liste von Entschuldigungen für die geplanten Steuererhöhungen präsentiert», sagte Kemi Badenoch, die Vorsitzende der Konservativen, spöttisch. «Sie machte alle anderen verantwortlich für ihre eigenen Entscheidungen und Fehler.» Badenoch hatte erst vor ein paar Monaten bei Starmer nachgefragt, ob das Versprechen, die Steuern nicht zu erhöhen, immer noch gelte. Er bejahte.

Richard Tice, der stellvertretende Vorsitzende von Reform UK, sagte: «Reeves hat heute bestätigt, was wir alle wissen: Sie wird die arbeitende Bevölkerung mit noch mehr Steuern quälen. Anstatt die Ausgaben und die Verschwendung zu drosseln und mit Deregulierung das Wachstum anzukurbeln, kriegen wir mehr vom Gleichen.»

So viel ist klar: Wenn die Wirtschaft stagniert, muss die Regierung entweder die Ausgaben kürzen oder die Steuern erhöhen. Ein Stück weit ist Reeves auch einfach die Überbringerin der schlechten Nachricht. Aber sie wird auf jeden Fall an den Pranger gestellt werden, und letztlich wird Reform UK vom Fiasko profitieren.