Russlands Präsident Wladimir Putin dürfte in diesen Tagen vor Selbstbewusstsein nur so strotzen, in seinem völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine ist der Kreml-Chef einem seiner großen Ziele gefährlich nah. Zugleich steht die überfallene Ukraine vor einem ihrer schwersten Verluste seit Monaten.
Es scheint nur eine Frage der Zeit, ehe Putins Truppen – ukrainischen Angaben zufolge 170.000 Soldaten stark – das ostukrainische Pokrowsk einnehmen werden. Fällt der einst 60.000 Einwohner große Ort, wäre es die größte Stadt, die Russland seit Bachmut im Frühjahr 2023 erobert hat.
Und Putin wäre seinem Wunsch, den Donbass zu kontrollieren, einen Schritt näher.
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Seit fast zwei Jahren versucht der Kreml-Chef, den Ort Pokrowsk einzunehmen, in den vergangenen Tagen haben sich die Kämpfe Medienberichten zufolge sowohl innerhalb als auch außerhalb der Stadt deutlich intensiviert.
Für Russland ist es sehr wichtig, alles dafür zu tun, um Pokrowsk real zu erobern.
Wolodymyr Selenskyj
Moskau selbst behauptete zudem, die verbliebenen ukrainischen Truppen dort bereits eingekesselt zu haben – eine Darstellung, der Kiew widerspricht.
Doch auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj musste zuletzt zugeben, dass Putin ganz in der Nähe eine riesige Gruppe Soldaten zusammengezogen hat. „Für Russland ist es sehr wichtig, alles dafür zu tun, um Pokrowsk real zu erobern“, sagte der Staatschef Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Ukrinform zufolge am Wochenende.
Pokrowsk gilt als zentrale Schlüsselstadt
Die Lage sei weiterhin „schwierig“. Mehr als 200 russische Angriffe sind laut Selenskyj in den vergangenen Tagen gemeldet worden. Einer Mitteilung des ukrainischen Oberbefehlshabers am Sonntag zufolge konzentrieren sich zudem mehr als ein Drittel aller Gefechte und jede zweite russische Bombardierung auf die ostukrainische Stadt.
„Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Stadt in den nächsten Wochen fällt“, sagt Stefan Meister, Programmleiter Internationale Ordnung und Demokratie bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, dem Tagesspiegel. „Die Ukrainer verzögern nur noch den Moment.“

Stefan Meister ist Programmleiter Internationale Ordnung und Demokratie bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
Ihm zufolge versuche Kiew nun vor allem, die russischen Truppen möglichst lange zu binden, um bis dahin die Verteidigungslinien weiter im Inland ausbauen zu können.
Pokrowsk gilt als Verkehrsknotenpunkt und auch deshalb als zentrale Schlüsselstadt für die Ukraine. Von dort aus führen zahlreiche Straßen nach Donezk im Osten oder Saporischschja im Westen – eine Art Nachschublinie für Kiews Logistik für den Donbass.
Doch schon die ist in jüngster Zeit für die Ukraine merkbar schwer zu halten gewesen, insbesondere weil Russland seine Technik massiv verbessert hat. Durch Putins Drohneneinheiten werden die Zufahrtswege nach Pokrowsk aber faktisch blockiert.
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Die Einnahme der Stadt könnte Moskau dann Zugang zum Rest der Region Donezk – und damit dem sogenannten Festungsgürtel der Ukraine verschaffen.
Dieser hatte einer Analyse des US-amerikanischen Forschungsinstituts „Institute for the Study of War“ die „russischen Vorstöße in der Oblast Donezk in den Jahren 2014 und 2022“ immer wieder behindert und erschwert Moskaus Bemühungen, den Rest der logistisch wichtigen Region einzunehmen.
Zehntausende Zivilistinnen und Zivilisten haben die Stadt in den vergangenen Jahren verlassen.
© REUTERS/ANATOLII STEPANOV
Mit dem Fall von Pokrowsk würde somit „eine wichtige Festungsstadt im Donbass unter russische Kontrolle“ sein, sagt Stefan Meister. „Es wird dann für Russland leichter werden, weitere Gebiete zu erobern. Der Festungsgürtel kommt damit massiv unter Druck, was größere Geländegewinne ermöglichen würde.“
Immer wieder hatte Putin die vollständige Kontrolle des Donbass gefordert. Donezk wurde genau wie der benachbarte Bezirk Luhansk bereits 2022 einseitig und völkerrechtswidrig von Russland annektiert, knapp 90 Prozent der Gebiete stehen bereits unter russischer Kontrolle. Ohne Pokrowsk hätte es die Ukraine ungleich schwerer, weiteren Offensiven von Putins Truppen standzuhalten.
Meereszugang durch Eroberung des Donbass
Doch nicht nur militärisch wären weitere Eroberungen im Donbass für den Kreml wichtig: Das Gebiet gilt als wirtschaftliche Herzkammer des Landes.
Vor Putins Aggressionen waren die ostukrainischen Gebiete wichtige Standorte der Kohle- und Schwerindustrie, mehr als die Hälfte der landeseigenen Bodenschätze im Gesamtwert von mehr als 14 Billionen US-Dollar liegen dort unter der Erde. Zudem hätte Moskau mit der Eroberung des Donbass einen wichtigen Meereszugang.
Pokrowsk gilt heute als weitestgehend zerstörte Geisterstadt.
© dpa/Iryna Rybakova
All das dürfte auch Wladimir Putin bei der Eroberung im Blick haben.
Zwar profitiert Russlands Wirtschaft teilweise erheblich von den Rekord-Militärausgaben des Kreml, zugleich sind die Öl- und Gaseinnahmen zuletzt um mehr als 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr eingebrochen. Erst am Freitag warnte die Zentralbank der „Moscow Times“ zufolge vor einer Rezession bis zum Jahresende.
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Für Moskau wäre die Einnahme der Stadt aber vor allem auch ein propagandistischer Erfolg, ein Beweis dafür, dass Russland auf dem Schlachtfeld kaum zu schlagen sei – und ein deutliches Zeichen Richtung Washington.
Erst Ende September hatte US-Präsident Donald Trump in einem Beitrag auf seinem eigenen sozialen Medium Truth Social gesagt, Kiew könnte „die gesamte Ukraine in ihrer ursprünglichen Form zurückgewinnen“. Im selben Beitrag verhöhnte er Moskaus militärische Stärke als „Papiertiger“. Diese von Trump antizipierte Wende im Ukrainekrieg wäre mit der Besatzung Pokrowsk kaum absehbar.