Historikern aus Hamburg und Berlin ist ein spektakulärer Fund gelungen. Erstmals gibt es Bildzeugnisse von der Verschleppung von Juden in Hamburg. Die Bilder lagen jahrzehntelang falsch beschriftet im United States Holocaust Memorial Museum in Washington.

Auf dem Gehweg der Moorweidenstraße stapeln sich Koffer mit handgeschriebenen Aufklebern und andere notdürftig zusammengebundene Habseligkeiten. Daneben stehen Menschen, die warten und sich verabschieden. Was lange nur aus Erinnerungen, Akten und Prozessprotokollen bekannt war, ist nun sichtbar: Drei Fotografien belegen die erste große Verschleppung jüdischer Hamburger am 25. Oktober 1941 in das „Ghetto Litzmannstadt“. Identifiziert wurden die Aufnahmen von Historikern der Freien Universität Berlin und der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte.

Es sind die bisher einzigen Foto-Zeugnisse einer Deportation aus Hamburg. Aus anderen Städten gab es derartige Bilddokumente lange. In der Hansestadt fehlten sie. Dass sie im Gemeinschaftsprojekt „#LastSeen. Bilder der NS-Deportationen“ gefunden worden sind, gilt als Meilenstein.

„Für mich war aus der Expertise unseres Projekts auf den ersten Blick eindeutig, dass es sich um Fotografien einer Deportation handelt“, sagt Alina Bothe, Historikerin und Leiterin des Verbundprojekts. Schon die Aufkleber auf den Koffern, von denen einige sogar zu entziffern sind, gaben eindeutige Hinweise, dass es sich um Bilder von Juden bei ihrer Deportation und nicht – wie bisher gedacht – um eine Evakuierung nach Luftangriffen auf Hamburg handelte. „Der aufwendige Prozess wissenschaftlicher Validierung, an dem zahlreiche Kolleginnen dankenswerterweise mitgewirkt haben, hat diesen ersten Eindruck bestätigt“, sagt Bothe. Die Fotos zeigen die Ankunft am Logenhaus in der Moorweidenstraße 36 am 24. Oktober 1941 und – tags darauf – den Abtransport mit Polizeiwagen zum Hannoverschen Bahnhof.

Die Aufnahmen stammen aus dem privaten Album des Hamburgers Bernhardt Colberg, Angehöriger des Reserve‑Polizeibataillons 101. Das Album liegt im United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington. Jahrzehntelang waren die Szenen dort als „Evakuierung nach Luftangriffen“ einsortiert – eine Deutung, die die Forschung nun revidiert hat.

Der Zug nach Litzmannstadt ging um 10.10 Uhr

Im Herbst 1941 ordnete die Gestapo an, dass sich die zum Abtransport ausgewählten Hamburger Juden im Logenhaus einzufinden hatten – mit bis zu 50 Kilogramm Gepäck, Bettzeug, Proviant für zwei Tage, einer kleinen Geldsumme. Die Nacht verbrachten sie eng zusammengepfercht. Am Morgen des 25. Oktober fuhren die Mannschaftswagen zum Hannoverschen Bahnhof, von wo um 10.10 Uhr der Zug in Richtung Litzmannstadt/Łódź abfuhr. An Bord: 1034 Menschen. Für die allermeisten war es eine Reise ohne Rückkehr.

Der Hannoversche Bahnhof war zwischen 1940 und 1945 die Drehscheibe des Verschleppens aus Hamburg und Norddeutschland. In rund 20 Transporten wurden mehr als 8000 Menschen in Ghettos, Konzentrations‑ und Vernichtungslager deportiert. Heute erinnert ein Gedenkort an die Taten; ein Dokumentationszentrum ist im Aufbau.

Dass die Bilder Hamburg zeigten – Häuserfassaden, Straßenfluchten, die Nähe von Alltag – mache ihre Wucht aus, sagt Kristina Vagt von der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte. „Sie zeigen, dass das Unrecht am Tag und mitten im Stadtraum stattfand.“  Sie rückten die Deportation aus dem Abstrakten hinein ins Konkrete.

Die Herkunft der Bilder aus einem Täteralbum verleihe ihnen zusätzliche Aussagekraft. Das Reserve‑Polizeibataillon 101 ist in der Geschichtsforschung als Einheit berüchtigt, die an Deportationen aus Hamburg und an Massenerschießungen in Polen beteiligt war. „Die Fotos sind durch Colberg auf den Oktober 1941 datiert, es gibt keinen Grund, an dieser Datierung zu zweifeln“, sagt Wolfgang Kopitzsch, Hamburgs früherer Polizeipräsident und Historiker. „Zu diesem Zeitpunkt gab es keine nennenswerten Luftangriffe auf Hamburg – es sind also keine Evakuierungsbilder. Auf den Fotografien sehen wir ein in Hamburg verübtes Verbrechen des PB 101.“

Forscher hoffen auf Identifikation Betroffener

Die drei Bilder werden nun online im #LastSeen‑Bildatlas mit wissenschaftlichen Kommentaren präsentiert. Zudem sind sie in Hamburg noch bis 6. Januar 2026 im Geschichtsort Stadthaus zu sehen. Die Forschenden verbinden die Veröffentlichung mit einer Bitte an die Öffentlichkeit: Wer Hinweise auf abgebildete Personen geben kann, möge sich melden. Die Gesichter sind klein, die Gesten flüchtig, Teile der Bilder unscharf oder ungenau belichtet. Und doch hoffen die Historiker auf weiterführende Informationen. Familienalben, Nachlassbestände oder Erzählungen könnten helfen, Biografien sichtbar zu machen. So könnten Täterbilder heute zur Identifikation der Verfolgten beitragen – und damit zu einer späten Form der Gerechtigkeit.

juve