Rauhe Herzlichkeit und kaum verleugnete Verwundbarkeit: Es ist diese Stimme, dieser „brassy northern roar, flecked with bluesy moans“ – wie sie der Beatles-Biograph Ian MacDonald schon früh und unübersetzbar treffend umschrieb –, mit der John Lennon noch heute Menschen in ihrem Innersten berühren kann. In seinem sehnsüchtigen, auf sanfte Weise scharfen Ton liegt der tiefere Grund für seine Fähigkeit zur emotionalen Provokation. Er war es, der „Help“ gerufen und es gewagt hat, seine Seele zur Schau zu stellen. Er wagte es auch, zu versagen. Und das erforderte in einer von obligatorischem Männlichkeitswahn imprägnierten Popkultur einigen Mut.
Von allen britischen Popstars erinnert Lennon bis heute am stärksten an den Archetyp des ‚angry young man‘. Und wahrscheinlich besaß er in Europa die erste ehrliche weiße Rock-’n’-Roll-Stimme. All dies ist die eigentliche Basis seiner bis heute ungebrochenen ‚credibility‘, seiner Würde und Glaubwürdigkeit. Lennons oft widersprüchliche Art zu leben wurde ihm zum wichtigsten politischen Statement. Demonstrativ hat er immer wieder versucht, Privates und Öffentliches, Persönliches und Politisches miteinander zu versöhnen. Und doch blieb Lennon ein problembeladener „working class hero“, der sich im Zeitalter zynischer Superstars dagegen wehrte, zur Massenware degradiert zu werden.
Diffamiert als „spalterische Hexe“
Von all diesen Wirren und Triumphen erzählt jetzt die Box „Power To The People“. Nicht nur ist hier die Eindringlichkeit von Lennons Gesangsstimme in ihrer ganzen Kraft und Reinheit zu erleben, das opulente Boxset – liebevoll zusammengestellt und skrupulös gemixt von Sean Ono Lennon – umfasst mit seinen neun CDs, drei Blu-Rays und einem 200-seitigen Prachtband die politisch radikalste Periode in John Lennons und Yoko Onos Leben. Als er am 3. September 1971 mit seiner in England als „spalterische Hexe“ diffamierten Ehefrau in die Vereinigten Staaten übersiedelte, hatte er nichts von seiner unbezähmbaren Antriebskraft eingebüßt.
Benefizkonzerte für politisch Verfolgte, zornige Talkshow-Auftritte, Solidaritätsadressen an linke Organisationen – dem FBI, das ihn schon länger im Visier hatte, lieferte er jede Menge Anhaltspunkte für ein vermeintlich „unamerikanisches Verhalten“. Der Verhaltensforscher Desmond Morris vermutet zu Recht die Wurzel dieser kreativen Wut in den Traumatisierungen von Lennons Kindheit: „Sein verzweifelter Drang, sich selbst zu überzeugen, dass er es doch wert war, beachtet zu werden, treib ihn weiter und weiter.“ Und so können noch sein Parolen-Pop und seine Kampagnen-Kunst Anfang der Siebziger als Kampf um sich selbst verstanden werden.
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Im Zentrum der „Power To The People“-Box stehen die beiden „One To One“-Konzerte der Plastic Ono Band vom August 1971 im Madison Square Garden, unterstützt von der im Greenwich Village angesagten Rockband Elephant’s Memory. Es sollten die beiden einzigen umfassenden Liveshows werden, die Lennon in seiner Zeit nach den Beatles absolvierte – jetzt zum ersten Mal in voller Länge veröffentlicht. Und immer ist es Lennons Mundwerk voller „spice and spleen“ welches die Liveversionen von „Instant Karma“, einem nervenzerrenden „Mother“ oder „Cold Turkey“ befeuert.
„What a bad-ass City!
„New York City“ mit seinem Chuck-Berry-Gitarrenriff und einer Liebeserklärung an die „Statue of Liberty“ atmet mitreißende Highspeed-Erregung. „What a bad-ass-city!“, schreit John. Man spürt geradezu die Angst und Anspannung in seiner Stimme, nicht zuletzt auch in der gellenden Neufassung von „Come Together“. Da findet sich ein grandios überdrehtes „Hound Dog“ mit Lennons Bekenntnis „Elvis, I love ya!“ in der letzten Strophe. Es ist die perfekte Überleitung zum Sing-Along von „Give Peace A Chance“ mit den Gaststimmen von Melanie, Stevie Wonder oder Phil Spector.
Zwei Monate zuvor hatten John und Yoko ihr bis heute umstrittenes Album „Some Time In New York City“ herausgebracht: Ein hochpolitisches Manifest, das, aufgemacht wie eine Zeitungsseite, als eine Art „journalistisches Tagebuch der Revolte“ (Lennon) wirkte. Angefacht von der eklektischen Energie, inspiriert von der gegenkulturellen Szene im Big Apple, mit Nachbarn wie Bob Dylan und Allen Ginsberg, trugen die beiden jetzt demonstrativ Baretts, um sich als militante Revolutionäre zu outen. Musikalisch manifestierte sich ihr Engagement in Solidaritätsadressen an inhaftierte Aktivisten wie John Sinclair oder Angela Davis, an den Freiheitskampf der Nordiren oder an die Gefangenen im Attica State Prison.
Aus Rohfassungen zur vollen Größe
Es ist faszinierend nachzuhören, wie sich in einer „Evolution Documentary“ die einzelnen Songs langsam aus akustischen Rohfassungen zur vollen Größe entwickelten. Mit einer Ausnahme: Leider fehlt das feministische Manifest „Woman is the N***** of the World“, das wohl aus woken Erwägungen in der ganzen Box verschwiegen wird. Dabei zählte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung gerade dieser konfrontative Song zu den Highlights des Albums. Man hätte durchaus die Zeile „Woman is the slave to the slaves“ als Titel wählen können.
Entschädigt werden die Fans durch diverse unveröffentlichte Livemitschnitte – von der „John Sinclair Freedom Rally“ in Ann Arbor über ein „Attica State Benefit“ aus dem Apollo Theatre in Harlem bis zum Auftritt von John und Yoko in der David Frost Show vom Dezember 1971. Die Rock-’n’-Roll-Session mit Elephant’s Memory dokumentiert dagegen einmal mehr, dass Lennon im Grunde seines Herzens ein aufsässiger Rocker geblieben ist, der für die Beatles-Version von Carl Perkins’ „Honey Don’t“ vielleicht die bessere Wahl anstelle des braven Ringo Starr gewesen wäre.
Der Charme des Unfertigen
Es ist die furchtlose Bandbreite dieser Lennon-Box, die den Hörer gefangen nimmt. Selbst dass weitere dreiunddreißig rein akustische Rock-Klassiker solo im unvollkommenen Home-Jam-Verfahren aufgenommen wurden, war kein Hinderungsgrund für ihre Veröffentlichung. Gerade der Charme des Unfertigen macht sie hörenswert. Nicht zuletzt die giftigen Slide-Kommentare Lennons auf einer National-Resophonic-Gitarre zu vier Folk-Klassikern von Phil Ochs atmen Witz und Wahnsinn.
An solcher Risikobereitschaft mangelt es dagegen jener „Anthology 4“-Sammlung, die Ende dieses Monats noch ein paar Beatles-Raritäten aus ihrem schier unerschöpflichen Archiv versammeln soll. Leider wurde hier die wohl letzte Chance vertan, das einzig wirklich aufregende Stück aus dem Beatles-Fundus, die Klangcollage „Carnival of Light“, den Fans der Fab Four endlich zur ästhetischen Beurteilung zuzumuten. Einmal mehr scheiterte die Veröffentlichung dieser längst zum „Heiligen Gral“ verklärten Zufallskomposition im Stile von John Cage am Veto von Olivia Harrison, die wie schon ihr verstorbener Ehemann George zuvor den Freundlichkeits-Nimbus der Beatles nicht durch ein solch radikales Stück Musik beschädigt sehen wollte.
Yoko Ono hätte mit einem solchen Wagnis keinerlei Probleme gehabt. Ihre Schreikaskaden in der berühmt-berüchtigten Jam-Session mit Frank Zappa und den Mothers vom Juni 1971 setzten eine Risikobereitschaft und ein Selbstbewusstsein voraus, das den Beatles-Nachlassverwaltern heute zu wünschen wäre. Da war es in einem weiteren Boxset-Beitrag nur konsequent, dass der Comedian Jerry Lewis eine verrückte Reggae-Version von „Give Peace A Chance“ durch sein genial-dilettantisches Trompetenspiel bereicherte. Er hatte wohl recht, als er zuvor John & Yoko in seinem „Muscular Dystrophy“-Spendenmarathon vom September 1972 als „zwei der ungewöhnlichsten Menschen auf der ganzen Welt – und ich meine dabei nicht nur die Welt des Entertainments“ ankündigte. Fast möchte man der zerstrittenen amerikanischen Nation heute zurufen: „Mehr John & Yoko hören!“
John & Yoko / Plastic Ono Band: „Power To The People“. (Boxset mit 9 CDs, 3 Blu-Rays, Buch). Mercury Records 06024/75839668