Am Ende gibt es Luftküsse für alle. Tänzer und Choreograf Trajal Harrell, der 2021 bereits mit seinem umjubelten »The Köln Concert« im Schauspielhaus zu Gast war, lieferte den Abschluss der Euro-Scene in der ausverkauften Schaubühne Lindenfels. Harrell zeigte sein 2019 entstandenes Solo »Dancer of the year«. Darin vibed er knapp 60 Minuten lang in wechselnden Kostümen über einen roten Teppich. Harrell kommt aus dem Vougeing und dieser Auftritt liest sich wie eine ganz private Performance, in der er im stillen Kämmerlein zu verschiedenen Musiken, die er selbst über den Laptop auswählt, Dinge ausprobiert. Aber nicht, ohne sich am Ende umso stärker dem Publikum zuzuwenden – mit Luftküssen zu Joe Hisiashis »A Feather in the Dusk«, wobei er jeden Zuschauenden einzeln bedenkt. »Ich werde vielleicht nicht durchkommen, aber ich versuche es«, kündigt er das Vorhaben an und tatsächlich ist der Song am Ende der fünften Reihe zu Ende.

Dieses Finale vereint gleich mehrere Elemente, die in diesem Jahr das Festival auszeichneten. Da war vor allem die starke Dichte an Tanz und das fast vollständige Fehlen von Sprechtheater. Einzige Ausnahme: die slowenische Produktion »Sex Education II: Fight«, die in einem installativen Setting im Lofft anhand der Biografien der Politikerin Vida Tomšič und ihres Partners, dem Gynäkologen Franc Novak-Luka, den Kampf um sexuelle Selbstbestimmung im Nachkriegsjugoslawien nachzeichnet. Mit durchaus starken Bildern. Da wird etwa das Publikum zu einer illegalen symbolischen Abtreibung geladen und das Produktionsteam begibt sich auf die Suche nach dem ersten jugoslawischen Diaphragma durch die Archive dieser Welt.

Zum anderen stand die Beschäftigung mit der eigenen Biografie im Mittelpunkt des sechstägigen Bühnenmarathons. Da verhandeln etwa die Pina-Bausch-Tänzerin Cristiana Morganti und der William-Forsythe-Tänzer Emanuele Soavi ihre unterschiedlichen Tanzerfahrungen, ihre künstlerischen Herangehensweisen und ihre italienische Herkunft in einem launischen Abend. Dabei kommen die beiden über die Nabelschau zweier mit allen Bühnenwassern gewaschenen Bühnenkinder jedoch kaum hinaus. Das wird besonders klar im Vergleich mit dem taiwanesischen Beitrag »The Seas Between Us« des Choreografen Lo Fang-Yun. Hier philosophieren der taiwanesische Tänzer Chou Shu-Yi und der singapurisch-chinesische Tänzer Lee Mun Wai sich über die Bühne bewegend über ihre Herkunft. Weltpolitik und Biografien verschränkten sich auf einem strahlend geputzten Silbertablett und liefern einen der inhaltlich tiefsten Beiträge der diesjährigen Euro-Scene.

Hinzu kommen männliche Soli. Der Kanadier Manuel Roque überzeugt gleich zum Start mit seiner körperlich fordernden Raumchoreografie »Le vent se lève«, bei der er 50 Minuten lang die Diskothek im Schauspiel abtanzt und in diesen furiosen Ritt zahlreiche Tanzzitate einbaut. Robert Ssempijja erforscht in »Alienation III« das koloniale Erbe seiner Heimatstadt Kampala. Er kriecht und schleppt sich zunächst mit nacktem Oberkörper über die Bühne wie niedergedrückt, während aus den Lautsprechern ein Text in Luganda, einer der 40 in Uganda verbreiteten Sprachen, kommt. Eine klare, einfache Formensprache, die folgerichtig in einem Akt des Empowerments endet. Der Tänzer Pol Pi wiederum widmet sich »Me too, Galatea« dem Körper der Frau, während der kanadisch-jamaikanische Tänzer Harald Beharie in »Batty Bwoy« gleich seinen eigenen nackten Körper zur Verfügung stellt und alle Zuschauenden erstmal mit dem entblößten Anus begrüßt – bei gleißendem Bühnenlicht. In seiner Performance spielt er mit dem titelgebenden Begriff, der aus dem weiten Feld der homophoben Beleidigungen stammt. Drastisch und ironisch nimmt er Posen aus dem queeren Ballroom auf und wendet sie auf links. Das gleichzeitig begehrte wie gehasste Objekt verhandelt sich vor den Augen des Publikums (und mit lautem Progressive Rock) in ein Subjekt, einen Menschen, der schließlich im Zuschauerraum Platz nimmt. Auch dies ästhetisch wie inhaltlich ein starkes Stück.

Bei dieser Ausgabe der Euroscene stand das Schauspielhaus nicht zur Verfügung, was sich in der Programmgestaltung durchaus niederschlug. Zwar fand der Auftakt in der Oper statt, aber der Hass-Heilungs-Versuch des Caravan of Luv war ein Fehlschlag. Entfesselte Hippy-Pop-Versuche und die staatstragende Opernatmosphäre kamen hier einfach nicht zusammen, wenigstens die Leipziger Chorbeiträge sorgten für etwas Stimmung. Im Programm fehlten sond die mittelgroßen Stücke, die auch einem breiteren Publikum etwas sagen können. Ausnahme war hier sicher der partizipative »Slow Walk« durch die Leipziger Innenstadt von der Tanzcompany Rosas. 400 Menschen folgten diesem Angebot, insgesamt 4900 besuchten die diesjährige Euro-Scene.

Einen Abschied gibt es auch zu vermelden. Steven Cohen, der vor zwei Jahren noch für Ohnmachtsanfälle im Schauspielhaus gesorgt hatte, verabschiedete sich mit »People will People you« in einer leisen persönlichen Performance von der Bühne. Ein letztes Mal groteske Schuhe, Masken mit Schmetterlingen und Glitzer und Feuerwerk aus dem Hut. Auch das wäre ein geeigneter Abschluss des Festivals gewesen.