Es muss ein Wahnsinnsgefühl gewesen sein – Richard Siegal nennt es „warm“ und „energetisierend“ –, an einem Sonntagvormittag in das ausverkaufte Opernhaus zu kommen, in dem mehr als 1000 Menschen darauf warten, einen Einblick in seine Probenarbeit zu bekommen.

Die Auftaktveranstaltung des neuen Nürnberger Ballettdirektors Mitte Oktober „war als Outreach Format geplant, hatte aber auch einen bestätigenden Inreach-Effekt“, sagt Siegal, der den Willkommens-Vibes seines Publikums in spe mit ein paar Sätzen auf Deutsch entgegenkam. Das macht der international rührige US-amerikanische Choreograf selten, obwohl seine künstlerische Homebase seit 2008 in Deutschland ist. Zunächst in München, zuletzt in Köln, wo es 2023 mit seinem Ballet of Difference recht plötzlich nicht mehr weiterging.

Nachdem es die bayerische Landeshauptstadt versäumt hatte, den Träger des Münchner Tanzpreises zurückzuholen, beerbte der in der Frankenmetropole den überaus erfolgreichen Goyo Montero. Das ist ein Coup für Nürnberg – und eine nicht ganz einfache Aufgabe für Siegal, der genau weiß, wie groß die Fußstapfen sind, in die er da tritt.

Sensationelle 17 Jahre lang hat Montero Nürnberg mit feiner Kunst und emotionaler Wucht geflutet, etliche Preise und ein treues Publikum gewonnen. Siegal kann nun darauf hoffen, dass sich in die Trauer über seinen Abgang die Bereitschaft für etwas Neues mischt. Denn neu ist einiges. Siegals abstrakte, elektrisierende Ästhetik fußt in der Neoklassik. Er pflegt den Spitzentanz, interpretiert ihn aber modern. Hackende Spitzenschuhe, elektronische Musik und der kühle Hauch des digitalen Zeitalters treffen bei ihm auf die tänzerischen Traditionen, die sein diverses Ensemble mitbringt.

Die Verpflichtung des Choreografen Richard Siegal ist ein Coup für Nürnberg.Die Verpflichtung des Choreografen Richard Siegal ist ein Coup für Nürnberg. (Foto: JürgenxTheobald/IMAGO/Funke Foto Services)

Das trägt nun den etwas sperrigen Namen „Staatstheater Nürnberg Ballet of Diffence“ und ist ebenfalls zu großen Teilen neu. Ein Drittel der rund zwanzigköpfigen Companie konnte Siegal in Nürnberg halten, ein Drittel kommt aus seiner eigenen künstlerischen Vergangenheit und das letzte Drittel ist taufrisch gecastet. Nun gilt es, diese Drei-Drittel-Compagnie auf einen gemeinsamen Weg zu führen. Am kommenden Samstag wird sich erstmals öffentlich zeigen, wie weit sie damit bereits gekommen sind.

Die Choreografie „Lilac Time“ ist ein Verbindungsglied zwischen den beiden älteren Stücken, die nun in  „Noise Signal Silence“ zu sehen sein werden.Die Choreografie „Lilac Time“ ist ein Verbindungsglied zwischen den beiden älteren Stücken, die nun in  „Noise Signal Silence“ zu sehen sein werden. (Foto: Pedro Malinowski)

Wer Richard Siegals Arbeit schon länger verfolgt, dem mag der Titel der Eröffnungsproduktion vertraut vorkommen: „Noise Signal Silence“? Lauteten so nicht schon die schlaglichtartig eingeblendeten Übertitel seines Signaturstückes „Unitxt“, das er 2013 für das Bayerische Staatsballett choreografierte? Und auch das Multimedia-Spektakel hieß so, mit dem wenige Jahre später die Geburt seines „Ballet of Difference“ in der Münchner Muffathalle gefeiert wurde.

Diesmal steckt ein Gesamtpaket hinter dem bekannten Namen, in dem neben „Unitxt“ das 2019 am Berliner Staatsballett uraufgeführte „Oval“ und ein ganz neues Stück stecken. „Lilac Time“ ist laut Siegal ein Verbindungsglied zwischen den beiden älteren Choreografien, das den Spirit der neuen Nürnberger Compagnie feiert. Denn von der ist der Chef begeistert: „Ganz gleich, was ich ihnen vorschlage, sie greifen es sofort auf.“

Siegal unterscheidet nicht zwischen U- und E-Kultur

Das nach außen hin verwirrende Titel-Recycling steht laut Siegal für Kontinuität und die künftige geteilte Sprache, zu der alle mit unterschiedlichem Vorwissen aufbrechen. Für die, die schon seit München dabei sind wie Margarida Neto oder seit 2020 wie Livia Gil, mag sie sich bereits wie die Muttersprache anfühlen, wogegen andere wahlweise mit dem Spitzenschuh oder mit der Techno-Club-Atmosphäre fremdeln, die die Musik von Alva Noto oder Lorenzo Bianchi Hoesch verbreitet.

Ob Nürnberg demnächst ein neues Ballettwunder erleben wird, ist schwer zu sagen. Worauf es sich aber freuen darf, ist eine Freude am Tanz, die auch in die Körper der Zuschauer fährt und eine sinnliche Lektion im Sowohl-als-auch tänzerischer Traditionen.

Siegal unterscheidet nicht zwischen Hoch- und Subkultur und schaut in die Vergangenheit, um neue Formen und Ideen für die Zukunft zu entwickeln. So stand etwa die Kunst eines Sergej Diaghilew Pate, wenn am 21. Februar 2026 unter dem Titel „New Ballets Russes“ Siegals Kölner „Petruschka“ und eine brandneue „Pulcinella“ auf dem Spielplan stehen. Auch spannend für Münchner Tanzliebhaber, die kaum je erlebt haben dürften, wie er zu existierender Musik (in diesem Fall von Strawinsky) choreografiert.

Die Frage, wie wir unser kulturelles Erbe in die Gegenwart holen, wird sich Siegal auch hier stellen. Sie hat ihn streng genommen sogar nach Nürnberg gelockt, wo das Ballett voraussichtlich schon 2028  in das mit einer Menge historischer Altlasten verseuchte ehemalige Reichsparteitagsgelände umziehen wird. Dass Siegal die Antworten darauf nicht alle allein geben wird, deutet die dritte Spielzeitpremiere im Mai 2026 an, zu der er erstmals auch andere Choreografen einlädt. Die nicht nur tänzerisch enorm vielseitige Kirsten Wicklund kennt Siegal aus Antwerpen, seinen Landsmann Justin Peck aus dem San Francisco Ballet. In dessen Stück „Hurry Up, We’re Dreaming“ wird das 14-köpfige Ensemble übrigens in Sneakern tanzen.