Der Gemeinderat der Stadt Ternitz im niederösterreichischen Industrieviertel hat turbulente Tage hinter sich. Dabei ging es scheinbar nur um einen Turm. Um einen zehn Meter hohen Sprungturm, prominent platziert im weit über den Bezirk hinaus beliebten Ternitzer Freibad. Eigentlich sollte es am Montag in der Gemeinderatssitzung um die Vergabe der Abrissarbeiten gehen, denn Turm samt Becken sollten weg. Ein Bagger stand schon bereit. Das Springerbecken ist seit Jahren leck, die Sanierung der Stahlbetonwanne unerschwinglich. Auflagen und EU-Bäderverordnungen kommen dazu, alles nicht leistbar angesichts der allerorten angespannten Finanzsituation der Gemeinden. Und was soll ein Sprungturm, von dem niemand mehr ins Blau köpfeln wird?

Doch für die Ternitzer war der „Zehner“ identitätsstiftend, seit die Anlage im Jahr 1959 eröffnete. Über die Jahrzehnte wurde er zu einem informellen Wahrzeichen der Stadt. Vom Dreimeterbrett oder vom „Fünfer“ köpfelte bald wer, doch wenn an heißen Sommernachmittagen der Badewaschl über Lautsprecher verkündete „Achtung, Achtung. Um 14 Uhr öffnet der Zehn-Meter-Turm“, lief die Menge herbei, um zumindest kreischend und klatschend zuzuschauen. Der Turm ist Legende, das darf man behaupten.

Den Namen des Architekten, der die seinerzeit hochelegante und geschickt in diverse Ebenen geschmiegte Freibadanlage plante, kennt hier kaum jemand, doch das spielt keine Rolle. Denn die eigentliche Aufgabe der Architektur, so Roland Rainer, sei eine andere: „Wenn man als Architekt nicht die Möglichkeit ergreift, eine menschliche Welt zu bauen, die erfreulich ist, wenn man das nicht tut, dann ist man eigentlich kein Architekt.“ Roland Rainer, unbestritten eine der wesentlichen österreichischen Architekturgestalten des 20. Jahrhunderts, hat in Ternitz mit einer Arbeitersiedlung seine berühmte Gartenstadt Puchenau bei Linz vorweggenommen. Er hat hier eine Stadthalle errichtet, die älter ist als diejenige, die er in weit größerer doch ähnlicher Form für Wien plante, sowie eben dieses Ternitzer Bad.

Architektur, die das menschliche Leben „erfreulicher“ macht: Roland Rainers Sprungturm.

Architektur, die das menschliche Leben „erfreulicher“ macht: Roland Rainers Sprungturm. Woltron

Seit vergangene Woche ruchbar wurde, dass der Turm geschleift werden solle, gingen die Emotionen hoch. Mehrere Fraktionen bildeten sich heraus. Die eine stellten entrüstete Bürgerinnen und Bürger, die andere eine große Riege von Architekten und Architekturinstanzen, die Rainers Werk gerettet sehen wollten. Das Bundesdenkmalamt hielt sich vorerst zurück, da das betagte Bad immer wieder saniert und adaptiert worden war und heute als Gesamtensemble doch deutlich verändert ist.

Die Aktionsgruppe „Bauten in Not“ hingegen, bestehend aus einer Reihe von Architekten, die sich in ihrer kargen Freizeit um den Erhalt hochwertiger, jedoch nicht unter Schutz stehender Gebäude und Anlagen bemüht, erhob vehement Einspruch gegen den Abriss. Und genau an dieser Schnittstelle prallten die Welten aufeinander, wie sie es dieser Tage allerorten mit Getöse tun, von Brüssel bis über die Kontinente hinweg. Hier die Gemeinde, die von allen Seiten angeschossen wurde, die sich aber in der unangenehmen Situation wiederfand, die dem Vernehmen nach für die Gesamtsanierung erforderlichen drei Millionen Euro aus dem Säckel zu zaubern. Da die zurecht empörten Architekturfachleute, die den Abbruch zur Kulturschande ersten Ranges erklärten. Dort nicht zuletzt die Bürgerinnen und Bürger, denen die salomonische Lösung des Problems nun erst einmal erklärt werden muss. Denn vor der Gemeinderatssitzung rauchten die Köpfe, bis folgender Kompromiss Form annahm.

Der Turm bleibt, ein Teil des Beckens geht. Die Anlage wird zu einem neuen Ensemble umgewandelt. Die Beckenwand wird zur Boulderwand, der Turm wird integriert. „Der 10er wird bespielt werden“, sagt Kulturstadtrat und Vizebürgermeister Peter Spicker, aber eben anders als zuvor: „Wir werden ihn auch für Vorführungen etwa von Wega, Feuerwehr und Bergrettung verwenden. Der Turm wird nicht nur als Landmark erhalten bleiben, er wird auch weiterhin ein Leben haben.“

Das ist zwar ein Kompromiss, aber einer, der das Beste aus der verzwickten Situation herausholt. Niederösterreichs Landeskonservator Patrick Schicht ließ die Gemeinde gestern denn auch in einem Brief wissen: „Der Turm ist bis auf minimale Veränderungen vollständig aus der Bauzeit erhalten. Es ist wirtschaftlich nachvollziehbar, dass das Becken nun vor dem nötigen Umbaudruck nicht mehr finanziert werden kann und aufgelassen werden soll. Der Turm könnte jedoch durchaus für sich allein stehen bleiben, als Wahrzeichen der aufstrebenden Industriestadt, als markantes Beispiel der frühen österreichischen Moderne und als Hoffnungsträger, eines Tages wieder ein zugehöriges Becken zu schaffen. Augenscheinlich braucht der Turm auch keine großen Investitionen, um abgesperrt, aber standfest auf bessere Zeiten zu warten.“

Dem Springerbecken, den Zehner-Öffnungs-Ansagen des Bademeisters, den Köpflern, Salti und Schrauben – natürlich wird man dem schmerzlich nachtrauern. Doch auch in der Architektur ist ein gewisser Pragmatismus mitunter kein schlechter Zugang. Audiatur et altera pars, man höre auch die andere Seite. Das ist eine der Grundlagen des Rechts, in dem wir leben. Man kann Debatten auch kultiviert angehen, und das scheint hier, nach ein paar ordentlichen Bauchflecken, gelungen zu sein. Es wird auch nicht das letzte Ringen um den Erhalt wertvoller Substanz und andere schwierige Fragestellungen gewesen sein, denn die Gemeindegelder sind bekanntlich knapper denn je. Nur wenn jeder seine Fachkompetenzen einbringt, wenn allseits zielgerecht und nüchtern guter Wille bewiesen wird, werden wir samt unserer Kultur da halbwegs heil durchkommen.