Mit Bestenlisten ist es so eine Sache: Ein Betonkoloss der Universität in Stuttgart-Vaihingen rangiert immer wieder einmal weit oben auf den „Die zehn hässlichsten Gebäude sind . . . “-Listen. Vielleicht auch, weil er so gar nicht mit einem romantischen Campusbild im Einklang steht, wie man es gern mal in Kinofilmen inszeniert bekommt, wo häufig ehrwürdige Backsteinbauten als Horte des Wissens zu sehen sind. Nein, die Universität Stuttgart ist nicht die Harvard University. Und doch kann auch sie gefallen.

Wie immer man zum NWZ, dem Naturwissenschaftlichen Zentrum, steht – unbestreitbar auf Architektur-Lob-Listen finden sich auf jeden Fall einige großartige Bauten auf dem Campus, zu denen dieser Architekturspaziergang führt.

Route des Architekturspaziergangs auf dem Campus in Stuttgart-Vaihingen. Foto: STZN/Yann Lange 1. Naturwissenschaftliches Zentrum

Los geht es am leicht mit der S-Bahn erreichbaren Pfaffenwaldring 55/57, wo das achtstöckige Naturwissenschaftliche Zentrum (NWZ) zu bestaunen ist. Ein brutalistischer Prachtbau sagen die einen über die zwei verbundenen Hochhausriegel der 1970er Jahre, ein unwirtliches Unding, sagen die anderen. Das Zentrum bietet Raum für mehr als 10 000 (!) Mitarbeitende und Studierende aus den Fakultäten Mathematik und Physik sowie der Chemie und der Biologie.

Das NWZ am Pfaffenwaldring in Stuttgart. Foto: STZN

Also ein Dorf aus Beton, bestehend aus nur zwei Bauten. Sanierungen stehen an und was das Architekturbüro Henn fürs NWZ II im Pfaffenwaldring 57 vorhat, klingt nach einem guten Plan. Unter anderem, weil eine „Lernstraße“, die es dort gibt, wieder sichtbar wird und die Aufenthaltsqualität dieser Orte deutlich verbessert werden.

Besser wahrgenommen wird dann vielleicht auch einiges, das schon von Beginn an gut gedacht war – abgesehen vom vorbildlich sparsamen Flächenverbrauch – etwa die Kunst von Bildhauer Otto Herbert Hajek (1927-2005) im Eingangsbereich des Physikgebäudes.

2. Frei-Otto-Pavillon und Demonstrator-Hochhaus Frei Ottos Leichtbaupavillon, Pfaffenwaldring 14. Foto: LICHTGUT

Zwischen diversen Uni-Bauten entlang geht es zu einem im Vergleich zum NWZ schmetterlingszarten Bau: Dem Zeltdach-Pavillon des ILEK (Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruktion), entworfen vom Leichtbau-Genie Frei Otto. Das geradezu poetisch anmutende Gebäude ist ein maßstabsgetreues Modell jenes deutschen Pavillons, mit dem Frei Otto und Rolf Gutbrod in Montreal bei der Weltausstellung 1967 reüssierten und den Prix Perret erhielten, also noch vor dem Bau des Münchner Olympiastadiondachs.

Das 1964 gegründete Institut für leichte Flächentragwerke an der Uni war zu klein geworden – und so wurde das Modell neben dem Institutsgebäude errichtet. Damit es ganzjährig nutzbar ist, wurden an den Randseilen Verglasungen eingebaut. Wer in dem eingeschossigen Pavillon steht, staunt über die Seilkonstruktion und diese fast schon wohnlich heimelige Atmosphäre.

Der Pavillon steht inzwischen unter Denkmalschutz und wird bis heute genutzt. Beispielsweise für die Planung eines ebenfalls innovativen Gebäudes – das nur wenige Meter entfernt stehende Demonstrator-Hochhaus. Unterschiedlichste Disziplinen – 14 Institute der Universität – waren involviert, Forschende von der Bauingenieurskunst über Flugzeugtechnik bis zu Architektur.

Einige Meter vom Pavillon entfernt steht das Demonstrator-Hochhaus Foto: René Mueller Photographie

2021 wurde der 37 Meter hohe Turm, das weltweit erste in Originalgröße errichtete Modell für adaptive Hochhausstrukturen, fertiggestellt. Der Turm kann sich selbstständig in Schwingung versetzen und demonstrieren, wie ein Haus sich selbst mittels ausgeklügelter Technik auf Wind und Wetter einstellt und anpasst. Serienreif? Wäre toll.

3. Arena 2036 Arena 2026, Pfaffenwaldring 19/2 Foto: LICHTGUT/Max Kovalenko

Der Fußweg führt bis zur einer Straße, wenn man diese überquert steht man schon vor einem geheimnisvoll schimmernden, zum Teil sehr offen, zum Teil verschlossen wirkenden Gebäude, Baujahr 2016. Die „Arena 2036“ ist eine Kooperation von Universität Stuttgart und Privatwirtschaft. Keine echte Arena, sondern eine Abkürzung für „Active Research Environment for the Next Generation of Automobiles” – die stützenfreie Halle ist ein Forschungsprojekt, das sich mit „wandlungsfähiger Produktion für Leichtbau und der Entwicklung neuer Produktionstechnologien im Automobilbau auseinandersetzt“, wie es das Büro Henn Architekten (genau die, die auch das NWZ II sanieren) formuliert. Die Zahl 2036 steht für das 150-Jahr-Jubiläum des Automobils.

Die Form des mit Solarpanelen belegten Daches erinnert an alte Fabriken, geforscht wird an der Zukunft. Was man auf den ersten Blick nicht sieht: ein leichtes Textilgewebe auf der schmalen Seite dient den Büros als Sonnenschutz – und die Mitarbeitenden können dank einer besonderen Anordnung der eingespannten Segel daran vorbei in die Natur schauen. Denn: der Campus liegt nicht nur nah an der Autobahn, sondern auch am Wald.

4. Das Segalhaus Das Segalhaus am Allmandring 28c in Stuttgart-Vaihingen. Foto: Lichtgut/Ferdinando Iannone

Man spaziert am Waldrand weiter, passiert da die Baustelle für ein neues Physikgebäude, biegt links ein in die Straße hinunter unterhalb der Mensa und dann an dem kleinen See entlang (oder einfach auf dem Campusgelände zwischen den Wohnhochhäusern zurück bis zum NWZ) und dem nach unten an Wohnheimen entlang in Richtung NWZ und dem kleinen See. Von da geht es rechts zum Allmandring 28c. Dort ist auch ein Sportplatz, denn nicht nur Höhere Mathematik wird auf dem Campus gelehrt, sondern auch Sport- und Bewegungswissenschaften.

Ein Flachdachgebäude aus dem Jahr 1978 steht da, das von Studierenden unter Anleitung von Architekt Walter Segal entworfen wurde und die heute geforderten Parameter „Einfach Bauen“ schon damals erfüllte. Es handelt sich um ein Haus in Holzbauweise, mit einfachen Mitteln errichtet – und funktioniert bis heute.

5. Hysolar-Institut

Während Frei Ottos Pavillon am Pfaffenwaldring steht, hat sich sein Olympiastadion-Kollege Günter Behnisch in den 1980ern am anderen Uni-Ring architektonisch eingeschrieben – mit dem Hysolar-Institut am Allmandring 35. HY steht für Hydrogen, also Wasserstoff, Solar für Sonnenenergie. Im Gebäude und auf Freiflächen sollte die Verwendung von Sonnenenergie erforscht werden.

Es ist ein deutsch-saudi-arabisches Partnerprojekt, Bauherrin war das Land Baden-Württemberg, vertreten durch das Universitätsbauamt Stuttgart, wie auf der Uni-Homepage des Campus-Führers zu lesen ist. „Von Seiten der Universität Stuttgart waren das Institut für Physikalische Elektronik sowie das Institut für Technische Thermodynamik der Deutschen Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt in diesem Vorhaben vertreten.“

Hysolar, Allmandring 35 Foto: Ferdinando Iannone/Lichtgut

Das 1986/87 errichtete Gebäude aus Stahl, Leichtmetall, Glas, Blech und Holz wurde von Behnisch & Partner so beschrieben: „Wir haben die Vorstellung eines Hauses, das kein Haus mehr ist, sondern ein frei begehbares, offenes Volumen, verbunden durch Treppen, Rampen, Stege und Galerien.“

Das international für Aufsehen sorgende Paradebeispiel für dekonstruktivistisches Entwerfen steht seit 2019 unter Denkmalschutz. „Als innovatives Schlüsselwerk der modernen Architektur ist das HYSOLAR programmatisch für zukunftweisende Forschung in Baden-Württemberg und es besitzt als junges Kulturdenkmal einen hohen Symbolgehalt“, betonte Regierungspräsident Wolfgang Reimer anlässlich der Aufnahme auf die Denkmalliste.

6. Internationales Zentrum Internationales Zentrum, Allmandring 60. Foto: LICHTGUT

Auf dem Weg zurück geht es ins 21. Jahrhundert zu einem lang gezogenen schnittigen Gebäude: Universitäten konkurrieren um die besten Studierenden aus aller Welt, da macht sich ein gestalterisch ansprechender Empfangsbau namens IZ gut. 2005 wurde er fertiggestellt. Sich übereinander schiebende flache Baukörper mit vielen bodentiefen Fenstern schaffen eine offene Atmosphäre und zeigen einen internationalen Esprit – das ist die Anlaufstelle für ausländische Studierende im Pfaffenwaldring 60.

Entworfen wurde der Sichtbetonbau (das Material orientiert sich an Nachbargebäuden) vom Stuttgarter Büro dasch zürn + partner, die Architektenkammer zeichnete das Gebäude im Jahr 2008 mit dem Preis „Beispielhaftes Bauen“ aus. Zurück zum NWZ führt die Route über die breite Treppe oder über die Fußgängerbrücke (Architektur: Kaag + Schwarz) von 1994. Dort finden sich auch noch ein Café (Pfaffenwaldring 45) und ein schicker Lernort (Pfaffenwaldring 47) zum Entspannen.

Info zum Spaziergang

Route
Der Spaziergang ist 4 Kilometer lang und kann auf High Heels ebenso wie mit Turnschuhen bewältigt werden, es gibt nur wenige Steigungen. Am besten fährt man mit der S-Bahn 1, 2 oder 3 und steigt an der Haltestelle „Universität“ aus und ein. Wer an den Architekturspaziergang einen Waldgang anschließt, kann bis zum Bärenschlössle wandern. Dann kommen noch einmal rund drei Kilometer hinzu.

Einkehren
Vom Kaffeeautomaten etwas mitnehmen und im schicken Aquarium (Pfaffenwaldring 47) hervorragend auch auf Sesseln und Sofas ausruhen. Das Café frei(raum) im Pfaffenwaldring 45 ist sehr angenehm – ruhig, da die meisten Studierenden vor ihren Rechnern sitzen und arbeiten. Ein nettes Studentenkneiplein gibt es auch: das Unithekle, Allmandring 17.

Geeignet für
Menschen, die sich gern überraschen lassen, sich für besondere Architektur interessieren und keine Naturwissenschaftsphobie haben.