
Der Künstler Gao Zhen wird wegen Werken, die mehr als ein Jahrzehnt alt sind, in China vor Gericht gestellt. Unter Staatschef Xi ist kritische Kunst kaum noch möglich. Und auch im Exil werden Künstler eingeschüchtert.
Zhao Yaliang sitzt am Esstisch ihres winzigen Appartements und zeigt Bilder, die ihr Mann, der chinesische Künstler Gao Zhen, in seiner Gefängniszelle gefertigt hat: silhouettenartige Portraits und Szenen, die aussehen, wie ein Scherenschnitt – allerdings ohne Schere gemacht, sondern per Hand aus Papier gerissen.
Ein Bild zeigt Gaos überfüllte Zelle, ein anderes seinen siebenjährigen Sohn, außerdem ein Selbstportrait. „Hier sieht man die Nummer, die er im Gefängnis bekommen hat. In seinen Augen sind die Silhouetten von unserem Sohn zu sehen – und von mir mit kürzeren Haaren“, erklärt Yaliang.
Die Bilder sind, neben Briefen, die einzige Verbindung zu ihrem Mann. Sie darf nicht zu ihm, erfährt nur das, was ihr die Anwälte weiterleiten.
Der 68-Jährige ist mit 15 anderen Häftlingen eingesperrt, wartet seit mehr als einem Jahr auf seinen Prozess.
Gao Zhen sitzt seit August vergangenen Jahres im Gefängnis. Seine Frau und sein Sohn dürfen das Land nicht verlassen.
Warnungen in den Wind geschlagen
Gao Zhen und seine Familie sind eigentlich längst in die USA ausgewandert, kehrten vergangenes Jahr nur für einen Besuch zurück. „Viele Freunde, auch sein jüngerer Bruder, wollten nicht, dass wir zurück nach China fahren. Sie haben uns gewarnt, dass es ein zu großes Risiko sei. Aber Gao Zhen hat seine große Werkstatt hier vermisst. Er wollte zurückkommen und malen“, erzählt Zhao Yaliang.
Kurz nach seiner Ankunft stürmt die Polizei das Studio und beschlagnahmt mehrere Werke. Die sind mehr als 15 Jahre alt – längst bekannt, einige waren weltweit in Museen zu sehen. Doch die Regierung unter Staatschef Xi Jinping geht nun hart dagegen vor.
Nach einem neuen Gesetz klagten die Behörden Gao Zhen an. Es stellt die „Verletzung der Ehre von Kriegshelden und Märtyrern“ unter Strafe.
Zwei Bilder aus dem Gefängnis – ein Selbstporträt mit der Silhouette des Sohnes in den Augen …
… und das Bild des Sohnes von Gao, in dessen Pupillen sich der Vater spiegelt.
Unerwünschte Auseinandersetzung mit Mao-Ära
Die Werke, um die es geht, hat Gao Zhen zusammen mit seinem Bruder Qiang erschaffen; drei Plastiken, die sich mit der Verherrlichung von Staatsgründer Mao Zedong auseinandersetzen: eine Statue eines knieenden Mao in Büßerpose, eine „Miss Mao“ genannte Plastik mit Pinoccio-Nase und Brüsten, sowie eine Installation mit Mao-Lookalikes, die als Erschießungskommando vor Jesus Christus stehen.
Es sind drastische Werke, aber für solche Kunst gab es in den ausgehenden 2000er- und beginnenden 2010er-Jahren in der Volksrepublik noch Freiräume. Ein kritischer Blick auf die Geschichte war in engen Grenzen noch möglich, auch auf Maos Kulturrevolution in den 1960er-Jahren, die das Land ins Chaos stürzte. Auch die Gao-Familie hatte darunter gelitten.
Schaut man sich alte Aufnahmen von 2009 an, die Gao Zhen mit seinem Bruder in ihren früheren Werkstätten zeigen, wirken seine Aussagen zu den Werken wie aus einer fernen Welt.
„Wir setzen uns mit der Vergangenheit auseinander und der Gehirnwäsche, der alle unterzogen wurden“, sagte Gao Zhen damals. Dass jemand heute in China solche Sätze öffentlich sagt, ist nahezu unvorstellbar.
Mao mit Brüsten und der sehr langen Nase: Diese Mao-Darstellung des Staatsgründers passt nicht zur Parteipropaganda.
Appell an Ai Weiwei
Im Ausland hat Gao Zhen um Unterstützung gebeten, mit einem Brief an seinen früheren Weggefährten, den international bekannten Künstler Ai Weiwei, der im Exil lebt.
Ai hatte vor mehr als einem Jahrzehnt mit Kunstaktionen immer wieder auf Missstände in China hingewiesen und war schließlich im Frühjahr 2011 festgenommen worden. Viele Künstler, auch Gao Zhen und sein Bruder Qiang, gaben damals internationalen Medien Interviews und setzten sich für seine Freilassung ein.
Daran erinnert auch Gao in seinem Brief an Ai Weiwei. „Ich schreibe Dir, um Dich zu fragen, ob Du mir helfen kannst. Falls es möglich ist, würde ich hoffen, dass Du Deinen großen Einfluss nutzen kannst und einige internationale Künstler einlädst, sich für mich einzusetzen.“
Ai hat den Brief auf Chinesisch auf seinen Social-Media-Kanälen veröffentlicht, ohne weiteren Kommentar. Auf eine Interview-Anfrage der ARD an Ai Weiwei antwortet sein Management, der Künstler wolle sich derzeit nicht öffentlich dazu äußern. Zuletzt hatte sich Ai kaum noch in der Öffentlichkeit kritisch mit seiner Heimat China auseinandergesetzt.
Von Ai Weiwei hatte sich Gaos Familie eine deutliche Unterstützung erhofft – bislang aber äußert er sich nicht.
„Vielleicht klopft die Polizei an die Tür“
Viele Künstler trauten sich nicht mehr, die Stimme zu erheben, selbst wenn sie im Exil sind, sagt der chinesische Schriftsteller Ma Jian, der in London lebt. Er hatte gleich nach der Verhaftung Gaos im vergangenen Jahr eine Unterschriftenliste auf Facebook initiiert und chinesische Intellektuelle in China und im Ausland um Unterstützung gebeten.
„Viele Antworten, die ich bekommen habe, lauteten in etwa, ‚Wir müssen an die Sicherheit unserer Familie denken‘. Es gibt so viele chinesische Prominente, Intellektuelle, Künstler. Sie alle vermeiden es, öffentlich Ihre Meinung zu sagen. Ich weiß, wenn sie unterschreiben, klopft vielleicht die Polizei an die Tür.“ Oder vielleicht an die Tür von Verwandten in China.
Wie sehr manche chinesische Kunstschaffende auch im Ausland unter Druck stehen, zeigte sich auch am Wochenende. In New York wurde das IndieChina-Film-Festival mit Werken chinesischer Filmemachern abgesagt, die sich mit Themen wie Covid, Queerness und Tibet auseinandersetzen. Die Veranstalter erklärten, 80 Prozent der Einreichungen seien zurückgezogen worden, weil Filmemacher unter Druck gesetzt worden seien.
In China selbst gibt es kritische Kunst meist nur noch in kleinen Nischen. Kleine Gruppen treffen sich manchmal, ohne dass es eine größere Öffentlichkeit mitbekommt.
Manche Kunstwerke sind nur für Eingeweihte erkennbar – etwa Objekte, die mit einer Inhaftierung zu tun haben, ohne dass dies erstmal ersichtlich ist.
Kommerz statt Kunst
Auf der bekannten Pekinger Kunstmeile 798, einem ehemaligen Fabrikgelände, das früher viele kritische Geister der Kunstwelt angezogen hat und auf dem auch die Gao-Brüder eine Werkstatt hatten, zieht immer mehr der Kommerz ein.
Cafés und Touristenandenkenläden verdrängen immer mehr die Galerien – und die bekommen regelmäßig Besuch von Zensurbehörden. Viele Künstler wagten nicht mehr, bestimmte Linien zu überschreiten, sagt jemand aus der Kunstszene, der lieber anonym bleiben will.
„Einige Künstler produzieren in China tatsächlich noch kritische Werke, aber sie können sie nicht einer großen Öffentlichkeit zeigen. Es gibt aber noch kritisches Denken. Das ist das Wichtigste. Auch wenn es im Moment vielleicht der Tiefpunkt für die moderne Kunst in China ist. „
Viele Künstler vermeiden deshalb kritische Themen oder verstecken sie in abstrakter Kunst, um sich und die Familie zu schützen, sagt die Person aus der Kunstszene.
Warten auf den Prozess
Gao Zhens Frau Yaliang ist inzwischen einmal wieder zum Gefängnis gefahren, in dem ihr Mann einsitzt. Sie kann nur am Gefängnistor auf die Anwälte warten. Die haben an diesem Tag wieder keine Neuigkeiten, wann genau der Prozess beginnen soll.
„Allen Widerstand aufzugeben würde bedeuten, das Recht eines Künstlers auf freie Meinungsäußerung aufzugeben“, heißt es in Gao Zhens Brief an Ai Weiwei.
Dafür bezahlt Gao Zhen einen hohen Preis. Mit drei Jahren Haft rechnen die Anwälte.
Inzwischen erhält Gao Zhen auch kein Papier und keinen Stift mehr. Die Quelle, aus der er und seine Familie etwas Trost geschöpft haben, die Briefe und Kunstwerke aus der Haft, ist damit auch versiegt.
Jörg Endriss, ARD Peking, tagesschau, 13.11.2025 06:27 Uhr
