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Polen soll wieder ein unabhängiges Justizwesen bekommen – das möchte Ministerpräsident Tusk. Doch mit Nawrocki als Präsidenten hat er einen mächtigen Widersacher. Das PiS-Lager blockiert – und spekuliert auf Neuwahlen.
Eine Analyse von Lukasz Tomaszewski, ARD Warschau
Als sich bei der Präsidentenwahl im Juni der PiS-Kandidat Karol Nawrocki knapp gegen seinen liberalen Konkurrenten Rafal Trzaskowski durchsetzte, war vielen im Regierungslager klar: Es wird eine schwierige Zeit. Denn in Polen hat der Präsident zwar hauptsächlich eine repräsentative Funktion. Aber er kann per Veto Gesetze blockieren und durch seine Kanzlei auch eigene Gesetze vorschlagen.
Das tat der PiS-nahe Andrzej Duda – und auch sein Nachfolger, Polens Präsident Karol Nawrocki verfolgt diese Strategie. Das Ziel ist, durch Vetos und Blockaden die konservativ-liberale Regierung von Donald Tusk möglichst handlungsunfähig zu machen und somit für Neuwahlen zu sorgen.
Tusks Regierung hat nach zwei Jahren die Hälfte ihrer Legislaturperiode absolviert. Das wichtigste Wahlversprechen war es, das von den beiden PiS-Regierungen der Jahre 2015 bis 2023 beschädige Rechtssystem wieder zu reparieren und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Schwierigkeiten bei Reparatur des Rechtssystems
Die rechtspopulistische PiS hatte in ihrer Amtszeit einen neuen Landesjustizrat besetzt. Dieser berief über 3.000 politisch loyale Richterinnen und Richter. Diese „Neo-Richter“ und ihre Urteile werden vom aktuellen Justizminister Waldemar Zurek und EU-Organen nicht anerkannt. Als einer der wichtigsten Akteure der Demontage des Rechtsstaats gilt der ehemalige Justizminister und Generalstaatsanwalt Zbigniew Ziobro. Das polnische Parlament hat ihm vergangenen Freitag per Mehrheitsentscheid die Immunität entzogen.
Jetzt kann sich ein Gericht mit den 26 Anklagen der Staatsanwaltschaft beschäftigen, Ziobro verhaften lassen und in Arrest nehmen. Zu den Anklagepunkten zählen die Veruntreuung von Geldern aus dem Justizfonds und die Bildung einer kriminellen Vereinigung. Doch Ziobro ist nach Ungarn geflohen, wo er sich – geschützt von Staatschef Viktor Orban persönlich – der Strafverfolgung entzieht. So entwickelt sich der politische Tagesbetrieb gerade zu einem absurden Theater.
Den neuesten Akt eröffnet der im August vereidigte Nawrocki und holt zum Gegenschlag aus. Er versucht alles in seiner Macht stehende, um die Demontage des Rechtsstaats während der PiS-Jahre nicht wieder zurückzudrehen. Nawrocki legt immer wieder sein Veto gegen Gesetze ein und blockiert die Ernennung und Beförderung von Beamtinnen und Beamten, die möglicherweise im Sinne der Regierung handeln könnten.
Veto einlegen, blockieren und verweigern
Vergangenen Freitag verweigerte er die Vereidigung von Geheimdienstoffizieren. Ein präzedenzloser Fall in der Geschichte der polnischen Demokratie. Angesichts der geopolitischen Sicherheitslage könnte das gefährlich werden. Gestern traf es 46 Richterinnen und Richter. Sie sollten befördert werden von Bezirks- zu Landgerichten.
Polens Justizminister Waldemar Zurek braucht für seine Pläne der Entpolitisierung des Justizwesens junge, unabhängige Richterinnen und Richter. Zu den 46 Abgestraften zählen Juristen, die im Jahr 2021 einen offenen Brief unterzeichneten. Darin forderten sie die PiS-Regierung dazu auf, die Urteile des EuGH zu respektieren. Dieser hatte Ziobros Demontagen kritisiert.
Die PiS lag deshalb im Dauerkonflikt mit der Europäischen Union. Nawrockis Blockade kann also als Vergeltungsmaßnahme gegen EU-freundliche und unabhängige Juristen interpretiert werden. Das ist auch seinen Aussagen zu entnehmen. In einem Post auf der Online-Plattform X unterstellte er den von der liberalen Regierung benannten Juristen, das polnische Rechts- und Verfassungssystem infrage zu stellen und auf „schlechte Einflüsterungen des Justizministers“ zu hören.
Nach Meinung von Justizminister Zurek überdehnt der Präsident seine Kompetenzen: „Die Äußerungen des Präsidenten und seiner Mitarbeiter verheißen nichts Gutes und deuten darauf hin, dass der Präsident sich eine Macht aneignen will, die er nicht besitzt.“
PiS-Lager versucht, hinzuhalten
Somit stehen sich aktuell zwei Definitionen des Rechtsstaats gegenüber. Die Regierung versucht – im Einklang mit dem EuGH – den Zustand von 2015, also vor den PiS-Demontagen, zu erlangen. Und das PiS-Lager samt Präsident Nawrocki versucht, die Amtszeit der aktuellen Regierung auszusitzen und mit den ihnen verbliebenen Mitteln mögliche Reparaturen zu verzögern.
Nach Meinung des Vorsitzenden der Obersten Anwaltskammer, Przemyslaw Rosati, seien die Bürgerinnen und Bürger und ihre juristischen Angelegenheiten die Leidtragenden. Denn solange der Status der nach 2018 ernannten „Neo-Richter“ von den Verfassungsorganen nicht endgültig geklärt sei, müssen sie sich auf längere Wartezeiten einstellen. Seiner Meinung nach könnte die Blockadepolitik Nawrockis letztendlich zu einem Referendum über das Justizsystem führen.