Eine riesige Asphaltfläche in der Nachmittagssonne. Nur wenige Dutzend Autos verlieren sich auf dem Parkplatz am Werk 2 von Bosch in Schwäbisch Gmünd. Es ist ein Dienstag im Oktober, kurz nach 14 Uhr, eigentlich Zeit für den Schichtwechsel im Schießtal, wie die Einheimischen die Fabrik an dem Sträßchen nach Herlikofen nennen. Doch nur ein Mitarbeiter der Werkinstandsetzung ist zu sehen. Mit einem Laptop kontrolliert er Straßenleuchten an den Parkbuchten. „Wir wissen nicht, was mit den Hallen passiert, alle drei Wochen kommen neue Anweisungen. Keine Ahnung, ob sie verkauft oder vermietet werden“, sagt er.

Produziert wird in den allermeisten Gebäuden der Industrieanlage, die so pittoresk zwischen zwei Waldhängen liegt, nichts mehr. Denn das baden-württembergische Traditionsunternehmen Bosch steckt in der größten Krise seiner Unternehmensgeschichte.

Innerhalb von eineinhalb Jahren hat der größte Autozulieferer der Welt in mehreren Runden den Abbau von Tausenden von Arbeitsplätzen angekündigt – vor allem in Deutschland und in den Standorten rund um das schwäbische Autocluster Stuttgart. Insgesamt will Bosch bis 2030 rund 22.000 Stellen streichen. Schwäbisch Gmünd hat es im November 2024 getroffen – nachdem der Standort in den vergangenen 15 Jahren schon mehr als 40 Prozent seiner Jobs eingebüßt hat.

Das Werk in Schießtal soll nach dem Stellenabbau fast vollständig brachliegen.Das Werk in Schießtal soll nach dem Stellenabbau fast vollständig brachliegen.Lucas Bäuml

Dabei hat die Krise in den Bosch-Werken der 64.000-Einwohner-Stadt am Fuße der Schwäbischen Alb nichts mit der Frage zu tun, ob das Auto der Zukunft mit einem Elektroantrieb, einem Verbrennungsmotor oder einer Kombination aus beidem fährt. Hier stellt das Traditionsunternehmen Lenkungen her. Die brauche man auch in Zeiten der Elektromobilität. Oberbürgermeister Richard Arnold steht in seinem Amtszimmer, zieht sich das blaue Sakko aus und setzt sich an den Besprechungstisch. „Wir haben gedacht, wir sind nach den Sparrunden der vergangenen Jahre auf dem aufsteigenden Ast, und die Frage, ob Verbrenner ja oder nein, würde uns nicht betreffen“, sagt er. „Und was da dann rausgekommen ist, das war schon ein Schlag.“

Das Werk im Schießtal wird fast vollständig aufgegeben

An einem Freitag im November 2024 informiert Bosch die Mitarbeiter in Schwäbisch Gmünd. Am Nachmittag macht die Nachricht die Runde. Oberbürgermeister Arnold hatte das Unternehmen wenige Tage zuvor über die Entscheidung in Kenntnis gesetzt. In der veröffentlichen Erklärung geht es um „Marktentwicklungen“, um den „verschärften Wettbewerb“, um die „Bündelung von Funktionen“.

Der Kern ist sehr einfach: Bis 2030 will das Unternehmen von 3600 Stellen in Schwäbisch Gmünd 1300 streichen – zusätzlich zu den 750, die der Zulieferer sowieso abbauen wollte. Innerhalb weniger Jahre soll der Standort um rund 57 Prozent schrumpfen, das Werk im Schießtal, die größte von drei Bosch-Fabriken in der Stadt, wird fast vollständig aufgegeben. „Wir bedauern die erforderlichen Maßnahmen“, sagt Götz Nigge, ein Bosch-Manager mit einem Titel, der sich über mehrere Zeitungszeilen erstreckt.

Es ist ein Schock – für die Mitarbeiter, für die Stadt und für Andreas Reimer. Er ist 48 und stellvertretender Betriebsratschef und arbeitet seit mehr als 30 Jahren für Bosch. Mit 16 hat er eine Lehre als Industriemechaniker begonnen und seitdem nie einen anderen Arbeitgeber gehabt. „Das war unser Black Friday“, sagt er knapp ein Jahr nach dem Tag, an dem sich im Schießtal so viel verändert hat. Die Stimmung kurz nach Verkündung beschreibt Reimer mit den Worten Wut, Niedergeschlagenheit, Enttäuschung. Vor allem sagt er: „Das Vertrauen in den Arbeitgeber ist verloren gegangen.“

Die IG Metall gibt sich kämpferisch

Die Mitarbeiter, angeführt von Betriebsrat und IG Metall, kündigen Widerstand an. Am Nikolausabend 2024 bauen die frustrierten Werker vor ihrer Fabrik im Schießtal ein Grabfeld auf. Holzkreuze im nebligen Dunst beleuchtet von gruseligem Kernschein. Die Botschaft ist eindeutig: Das ist der Friedhof, auf dem die Zukunft von Bosch beerdigt wird. „Wenn die Geschäftsführung hier vorbeifährt, soll sie einmal selbst spüren, wie wir uns gefühlt haben, als die Nachricht vom Stellenabbau kam“, sagt IG-Metall-Funktionärin Tamara Hübner vor den demonstrierenden Arbeitern. Doch die Stimmung ist auch kämpferisch. „Wir werden bis zum Ende keinen einzigen Arbeitsplatz aufgeben.“

Während eines Aktionstags im März demonstrieren bundesweit 25.000 Bosch-Mitarbeiter gegen die Abbaupläne, vor der Konzernzentrale in Gerlingen skandieren 10.000 Werker und Ingenieure „Stoppt die Job-Killer“. Während Arbeitnehmervertreter den Protest laut und schrill auf die Straße tragen, verhandeln Betriebsrat und IG Metall mit der Unternehmensleitung in Schwäbisch Gmünd hinter verschlossenen Türen, um das Schlimmste anzuwenden.

Auch Oberbürgermeister Arnold ist in die Gespräche eingebunden. Er lädt zum Frühstück ins Barockzimmer des Rathauses. Damit „etwas Atmosphäre“ entsteht, bringt Arnold Holzofenbrot aus seinem Heimatdorf, Butter und Honig mit. Trotzdem sei die Stimmung eisig gewesen. „Die hatten ihr Ding im Kopf und waren stur wie Bock“, sagt der Oberbürgermeister schwäbisch direkt – und dann diplomatischer: „Ich war überrascht, dass die das alles so konsequent durchziehen.“ Die Gewerkschaft bewertet die Treffen nicht positiver. „Den Willen, zu einer guten Lösung zu kommen, hat man nicht gespürt“, erzählt Heike Madan, die erste Bevollmächtigte der IG Metall Schwäbisch Gmünd.

Oberbürgermeister Arnold (CDU) hat einst selbst in der Härterei gearbeitet, die Bosch später schloss.Oberbürgermeister Arnold (CDU) hat einst selbst in der Härterei gearbeitet, die Bosch später schloss.Verena Müller

Gebracht habe die Verhandlung nicht „wirklich etwas“, sagt Arnold. Ganz stimmt das nicht. Im Juni veröffentlicht das Unternehmen eine Mitteilung, dass Bosch nicht 1300, sondern nur 1150 Stellen zusätzlich zu den schon ausgemachten streichen wird. Damit reduziert sich die Zahl der Bosch-Arbeitsplätze in Schwäbisch Gmünd bis Ende des Jahrzehnts von 3600 auf 1700. „Wir konnten erreichen, dass die Ausbildung bleibt“, sagt Betriebsrat Reimer. „Zudem soll der Abbau möglichst sozialverträglich über Vorruhestand oder Abfindungen erfolgen.“ Das verbuche er als Erfolg in einem Kampf, der ansonsten leider ziemlich aussichtslos sei.

„Gute Leute gehen. Entwickler sehen hier keine Zukunft mehr“

Reimer hält künftig sogar eine Werkschließung für möglich. Der Trend sei auf jeden Fall, dass Bosch die Produktion in Schwäbisch Gmünd immer mehr zurückfahre. Er berichtet, wie vor allem junge Leute und qualifizierte Mitarbeiter einen Job suchen. „Gute Leute gehen. Entwickler sehen hier keine Zukunft mehr.“ Bosch sieht die Vereinbarung als „Bekenntnis zum Standort“. Eine Sprecherin schränkt ein: „Unabhängig davon gilt natürlich immer, dass wir als Zulieferer abhängig vom Marktgeschehen sind.“

Sprechchöre, die „Job-Killer“ schmähen, Grableuchten und Kreuze vor den Fabriken, Tausende Werker, die gegen die Geschäftsführung protestieren. Solche Szenen sind in der Bosch-Welt neu. Das Unternehmen ist stolz auf seine soziale Verantwortung gegenüber den Beschäftigten, stolz auf den Bosch-Weg, der auch in Krise gelebt wird.
Der Name Bosch steht nicht nur für Innovationskraft, sondern auch für gelebtes Miteinander. Gründer Robert Bosch immer bemüht um Ausgleich, führte 1906 als Erster den umstrittenen Acht-Stunden-Tag ein – gegen heftige Proteste seiner Unternehmer-Kollegen, die ihn fortan als „roten Bosch“ betitelten. „Ich zahle nicht gute Löhne, weil ich viel Geld habe, sondern ich habe viel Geld, weil ich gute Löhne bezahle“, soll der 1942 in Stuttgart verstorbene Ingenieur bei mehreren Firmenreden gesagt haben.

Richard Arnold kennt die Geschichte von Bosch genau. Aber man habe ihm gesagt, dass sich die Zeiten geändert hätten, chinesische Wettbewerber „kompetitiver“ geworden seien. Mit nur einem Wort schafft es der CDU-Schultes, die Sprache der Manager nachzuahmen, wie sie vor ihm die harten Einschnitte zu rechtfertigen suchen. „Und klar, auch ich kann erkennen, dass wir höhere Energiekosten, höhere Arbeitskosten, höhere Personalkosten haben, dass wir so nicht auf die Wettbewerbsfähigkeit der Konkurrenz kommen“, sagt er. „Bisher konnten wir das durch Zuverlässigkeit und die Qualität der Produkte ausgleichen. Der Vorsprung ist wohl abgeschmolzen.“

Ungarn ist heute der attraktivere Standort

Die Produktion der Lastwagen-Lenkungen verlagert Bosch von Schwäbisch Gmünd ins ungarische Maklár. Der Zulieferer hat das in Gesprächen mit Betriebsrat und Gewerkschaft auch damit begründet, dass das türkische Unternehmen Hema Endüstri mit chinesischer Hilfe die Produktionskapazitäten für Lastwagen-Lenkungen in der Türkei ausbaut. „Die innovativsten Systeme kommen noch immer von uns hier, aber Bosch testet sie in China und stellt sie in Ungarn her. Wir sind hier zwar immer noch technologisch vorne, aber jetzt abgeschnitten vom Experimentieren und von der Produktion“, sagt Arnold. „Ich frage mich, wie lange das gut geht.“

Was gehe, komme nie wieder zurück. Das sei eine Abwanderung von Kernkompetenzen. Arnold beugt sich vor, seine rote Krawatte schmiegt sich nicht mehr an das weiße Hemd, sondern liegt auf den Notizen, die er vor sich hat. „Und wissen Sie, was ich nicht versehe“, sagt er und seine sowieso schon laute Stimme wird noch durchdringender. „Ich verstehe nicht, dass alle so ruhig bleiben und das alles hier als Gott gegeben, gewissermaßen als schon natürliche Entwicklung, sehen. Als Schicksal.“

Werk 2 im Schießtal. Ein Ingenieur geht durch das Drehkreuz am Haupttor und strebt zu seinem Auto. „Das ist schon traurig, in zehn Jahren wird das hier aussehen wie im Ruhrgebiet“, sagt er und blickt auf die Produktionshallen. Noch hängt ein riesiges Werbebanner am Parkhaus. Der Slogan „Let‘s boost dynamic, convenient and safe mobility“ appelliert an den Erfindergeist derjenigen, die hier vor wenigen Jahren noch zu Hunderten täglich zur Arbeit strömten.

Der Bosch-Geist ist Vergangenheit

„Das hier war ein Schlaraffenland. Wir haben Löhne bekommen, die sonst in der Umgebung nirgendwo zu erzielen waren“, erzählt der Ingenieur. „Für uns ist es noch gut, wir bekommen eine Abfindung, aber dann?“ Die Stadt, die Menschen, die Region? Er macht eine Pause und zuckt mit den Schultern. Alles ändere sich – auch bei Bosch. Oder gerade bei Bosch?

Den Bosch-Geist, die Verantwortung, die Führungskultur gebe es nicht mehr. „Früher waren die Chefs vor Ort, mit der Stadt verbunden, haben in Schwäbisch Gmünd gewohnt“, erzählt er. „Jetzt leben sie meist weit weg, und das Personal wechselt alle drei Jahre.“

Das, was Bosch-Arbeiter in wenigen Sätzen zusammenfassen, steht in Schwäbisch Gmünd für etwas Grundsätzlicheres. Die Stadt verliert mit dem Rückzug von Bosch einen Teil ihrer Identität, ihre Gewissheit, ihr Selbstvertrauen. 7100 oder 25 Prozent aller Sozialversicherungsbeschäftigten der Stadt arbeiten in der Automobilbranche. Viele haben persönliche Geschichten. Ihr Leben prägt die Fabrik oder hat sie zumindest zeitweise begleitet. Es ist auch die Geschichte des Oberbürgermeisters. Richard Arnold stammt von hier, als Ferienjobber hat er in der Härterei im Schießtal gearbeitet. In der Härterei, die Bosch schon lange geschlossen hat.

Der größte Autozulieferer der Welt galt wegen seiner großzügigen Behandlung der Arbeiter als „der rote Bosch“.Der größte Autozulieferer der Welt galt wegen seiner großzügigen Behandlung der Arbeiter als „der rote Bosch“.Lucas Bäuml

„Der Rückzug ist ein tiefer Bruch, es ist eine Erschütterung des Vertrauens in das Unternehmen und in die Wirtschaft selbst“, sagt Arnold. „Es gibt viele Familien, die ihr ganzes Leben mit dem Standort verbunden haben.“ Familien, die seit der Gründung der Fabrik 1937 über Generationen im Schießtal gearbeitet haben. Nach einer IG-Metall-Veranstaltung vor einigen Monaten hat eine Frau den Oberbürgermeister angesprochen. Sie habe gerade erst realisiert, dass der Abbau auch sie betreffe. „Sie war Anfang 40, hat bislang ihr ganze Leben bei Bosch gearbeitet, Kinder bekommen, dann wieder angefangen zu arbeiten. Sie ist einfach in Tränen ausgebrochen“, erinnert er sich.

Es sind solche Schicksale, die Arnold umtreiben, und es ist der gefährdete Wohlstand seiner Stadt, der ihn beunruhigt. Zusammen mit anderen Entlassungen wie beim Naturkosmetikhersteller Weleda oder beim Spielwarenhersteller Schleich verliere Schwäbisch Gmünd gerade mehr als 2500 Arbeitsplätze.

Viele andere Berufe hängen an der Industrieproduktion

„An solchen Arbeitsplätzen hängen immer andere dran, Bäcker, Friseure, Apotheker, der Einzelhandel, Handwerker“, erzählt er. „Wenn Bosch den Standort halbiert, dann muss man auf die Zahl der gestrichenen Stellen noch einmal die Hälfte drauf rechnen. Das sind die Jobs, die im Umfeld kaputt gehen.“ Streicht ein Industrieunternehmen Stellen, seien das oft kleine Betriebe mit drei bis fünf Mitarbeitern, Werkzeugmacher oder Modellbauer. Die Unternehmen verschwänden still und leise – mit ihnen das Know-how.

Als die Bürger von Schwäbisch Gmünd Richard Arnold im Jahr 2009 erstmals zum Oberbürgermeister wählten, hatte der Standort noch mehr als 6000 Beschäftigte und war ein Gemeinschaftsunternehmen von Bosch und dem Zulieferer ZF. „Damals hat die Stadt zum ganz großen Teil von dem Unternehmen gelebt. Man hat immer gesagt, wenn die draußen im Schießtal husten, dann fallen hier im Rathaus gleich alle um“, erinnert sich Arnold.

In dieser Zeit kamen in manchen Jahren mehr als 50 Prozent der Gewerbesteuer von Automobilunternehmen, nun sind es nur noch rund fünf Prozent. Damals habe die Stadt versucht, andere Betriebe anzusiedeln, um nicht nur vom größten Arbeitgeber abhängig zu sein. Als ZF den Zulieferer TRW übernahm und 2015 die Anteile am Joint Venture an Bosch übergeben musste, habe man aber im Rathaus sehr schnell gemerkt, dass „es schwieriger wird“.

Der Stellenabbau zieht sich schon seit Jahren hin

Bosch begann eine Restrukturierung und reduzierte die Belegschaft in Schwäbisch Gmünd von 5400 Arbeitsplätzen vor zehn Jahren um fast 2000 Stellen. Nach harten Verhandlungen zwischen 2017 und 2019 hat man eine Einigung erzielt, bei der die Mitarbeiter viele Opfer bringen mussten. „Das waren für uns die Nachwehen von ZF. Aber der Betriebsrat und wir sind davon ausgegangen, dass wir den Standort damit konsolidiert haben“, sagt Arnold. „Als 2023 und 2024 das Werk dann die Gewinnziele verfehlt hat, sind wir jäh aus unseren Träumen gerissen worden.“

Bei Betriebsrat Reimer klingt das anders. „Wir haben immer an eine bessere Zukunft geglaubt.“ Und noch ganz anders klingt es, wenn Bosch die Lage aus Unternehmenssicht erläutert. „Der Wettbewerbs- und Preisdruck hat sich sehr verschärft. Wir konkurrieren in Europa mit Anbietern, die aufgrund ihrer Produktion in Ländern mit niedrigeren Kosten deutliche Vorteile haben“, sagt eine Sprecherin und verweist darauf, dass die heutige Marktsituation und Auftragslage nicht mit damals zu vergleichen sei.

Der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende in Schwäbisch Gmünd, Andreas Reimer,  sieht einen enormen Verlust an Know-how.Der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende in Schwäbisch Gmünd, Andreas Reimer, sieht einen enormen Verlust an Know-how.Lucas Bäuml

Blickt man vom oberen Parkplatz im Schießtal über das Werk, liegt Stille über dem Gelände. Kein Werksverkehr. Keine Werker, die von einer Produktionshalle in die andere wechseln. Nur in der äußeren Halle, die an der Straße Richtung Herlikofen liegt, steigt Dampf auf. Es ist diese Stille, die Schwäbisch Gmünds Oberbürgermeister so laut werden lässt. „Wenn Sie sehen wollen, wie Transformation aussieht, was sie für ein Gesicht hat, dann legen Sie das mal hin. Das sind rund 210.000 Quadratmeter“, donnert Arnold und haut eine Karte auf den Tisch.

„Das ist gespenstisch. Das ist Tschernobyl-like“

Der Plan zeigt das Werk im Schießtal mit allen Gebäuden, rund 90 Prozent davon sind blau eingefärbt – es sind die Hallen, die Bosch im Zuge der geplanten Restrukturierung aufgibt. Neudeutsch würde man es einen Rant nennen, in den sich Arnold reinredet. „Wir haben da draußen, eins, zwei, drei, vier, ich weiß es genau, fast 20 Hallen. Da gehst Du rein, machst die Tür auf und siehst: Alles leer. Das ist gespenstisch. Das ist Tschernobyl-like“, sagt Arnold in seiner wütenden Schimpftirade. „Wir haben hier Transformation, die man greifen, anschauen und anfassen kann.“ Und die Transformation, die Arnold meint, hat nichts mit der Elektromobilität zu tun. Arnold meint mit Transformation das Verlagern von Produktion, er meint die De-Industrialisierung seiner Heimatstadt.

Die Frustration Arnolds beruht aber nicht allein auf den leeren Hallen im Schießtal an sich. Sie gründet sich auch darauf, dass er sich als Bürgermeister von der Bundesregierung und von der Europäischen Kommission allein gelassen fühlt. Nach der Wende 1990, als Nato-Truppen bei ihrem Rückzug viele Militärareale geräumt haben, hat der Bund in einer Gemeinschaftsinitiative mit der EU gezielt Unternehmen angesiedelt. Daran denkt Arnold jetzt immer wieder. „Ich habe gedacht, dass das die Regierung in Berlin nicht kalt lässt, wenn solche Flächen zur Verfügung stehen. Ich bin erstaunt, dass das nicht aufgegriffen wird. In Berlin will man die Zukunft einfach nicht gestalten“, sagt er.

In Brüssel bei der Europäischen Kommission hat Schwäbisch Gmünds Oberbürgermeister zwei Mal in der Sache vorgesprochen – im vergangenen Jahr gemeinsam mit seinem Gemeinderat und vor wenigen Wochen auf dem Wirtschaftsgipfel, zu dem Baden-Württembergs Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut in die belgische Hauptstadt eingeladen hatte. Die Delegation aus Schwaben habe mit Vertretern der Kommission, mit Abgeordneten des Parlaments, aber auch mit Angestellten aus unteren Behörden gesprochen.

Oberbürgermeister wirft Brüssel und Berlin falsche Prioritäten vor

Arnolds Fazit ist ziemlich eindeutig – und ziemlich vernichtend: „In Brüssel sind alle mit dem Green Deal beschäftigt, sie müssen all das umsetzen und abarbeiten, was Kommissionschefin Ursula von der Leyen mit ihrer Initiative 2019 auf den Weg gebracht hat“, sagt Arnold. Ihm geht es nicht um die Klimapolitik an sich, sondern darum, dass die EU-Verwaltung für keine anderen Dinge mehr Kapazitäten hat. „Die Lawine mit den Gesetzen rollt gerade erst an. Da haben Anliegen wir das unsere keinen Platz.“

Und bei noch einem Ärgernis ist Arnold während seiner Gespräche in Brüssel nicht weitergekommen – und das hat wieder sehr konkret mit den leeren Bosch-Hallen im Schießtal zu tun. Denn die stehen auch leer, weil der Autozulieferer die Produktion der Lastwagen-Lenkungen nach Maklár verlagert. Der Fertigungsstandort in Ungarn wird nach Unternehmensangaben künftig zum Leitwerk und Kompetenzzentrum für diese Produkte.

Dafür hat Bosch für 111 Millionen Euro eine neue Multifunktionshalle gebaut, die der ungarische Staat mit 25 Millionen Euro mitfinanziert hat. „Wir als Nettozahler zahlen in die Europäische Union ein, und mit dem Geld werden Staaten ertüchtigt, in die dann unsere Unternehmen ihre Produktionen verlagern“, wettert Arnold. Auch wenn das vom Beihilferecht gedeckt ist, sei es nicht in Ordnung. Pause. „Es ist verheerend.“

Die EU stopfe ein Loch, indem sie ein neues aufreißt, meint er. Der Automobilstandort Baden-Württemberg sei selbst in der Krise und voll in der Transformation. Werde das aufgegriffen? Wann spiegele sich das in der europäischen Strukturpolitik wider?

Bosch in Schwäbisch Gmünd zeigt den freien Fall

Er erhebt Forderungen, die auch die IG Metall immer wieder vorbringt. Antworten auf seine Fragen hat Arnold nicht bekommen. Oder noch schlimmer: Was der Oberbürgermeister bekommen hat, sei „Kanzleitrost“. Sprich: Vertröstungen, Beschwichtigungen, nichts sagende Plattitüden. „Wir werden von Brüssel nicht gehört, wir werden von Berlin nicht gehört. Die Zeiten sind vorbei, in den Baden-Württemberg das Musterländle war“, sagt Arnold. „Am Beispiel von Bosch in Schwäbisch-Gmünd sieht man, dass wir im freien Fall sind.“
Und die Krise bei Bosch steht für die gesamte Situation der Automobilindustrie in Baden-Württemberg. Zwischen 2019 und 2024 sank die Zahl der direkt bei Herstellern und Zulieferern beschäftigten Menschen um mehr als acht Prozent auf 216.500. Und in diesen Daten sind die angekündigten Stellenabbau-Programme von Mercedes, Porsche, Bosch, ZF und vielen weiteren kleineren Unternehmen noch gar nicht enthalten.

Richard Arnold steht auf, tritt ans Fenster und blickt aus seinem Amtszimmer auf den Marktplatz seiner Stadt. Mittagszeit, Passanten gehen Richtung Johanniskirche, am Marienbrunnen genießen Menschen die Sonne. „Ich merke halt, wenn ich da rausgehe, dass die Menschen verunsichert sind. Dass mit dem Vertrauen in das Funktionieren der Wirtschaft auch das Vertrauen in das Funktionieren des Staates schwindet. Das greift ineinander über“, sagt er. „Die Menschen machen zu, sie verschließen sich. Ich als Oberbürgermeister halte dagegen. Wir werden nur reüssieren, wenn wir offen sind für Wandel. Ich kämpfe für eine offene Stadtgesellschaft.“

Und um ein Unternehmen, das die leeren Hallen im Schießtal wieder mit Leben füllt. Arnold ist jetzt 66. Im Mai haben ihn die Bürger von Schwäbisch Hall zum dritten Mal zum Oberbürgermeister gewählt, seitdem betreibt er die von ihm geforderte gemeinsame Ansiedelungspolitik auf eigene Faust. Sein Wirtschaftsdezernent hat ein elfseitiges Exposé über das Schießtal erstellt. Titel: „Schwäbisch Gmünd Werk 2: Ihr Raum für Ideen“. Mehr als ein Dutzend Unternehmen hat Arnold schon angesprochen, angeschrieben, angerufen. „Wir kommen in schlimme Zeiten rein, wenn wir weiter Zeit vertrödeln und nur schauen und nicht handeln“, sagt Arnold.

Um die Stellenstreichungen bei Bosch und anderen Unternehmen auszugleichen, braucht Schwäbisch Gmünd jährlich 500 neue Arbeitsplätze. Dieses Ziel hat sich Arnold gemeinsam dem Gemeinderat gesetzt. „Dafür spreche ich mit jedem“, sagt er. „Auch mit den Chinesen.“ Das hat der Oberbürgermeister schon im Wahlkampf klargestellt.