Blick durch die Frontscheibe eines Autos in Richtung Kreuzung: Der Wagen steht auf der rechten Spur der Rubensstraße, davor wartende Fahrzeuge, die die Sicht nach vorne einschränken, rechts am Hauseck ist ein Teil einer Fußgängerfurt erkennbar. Der Wagen schert nun nach links auf die Linksabbiegespur aus, fährt an der Warteschlange vorbei, und eine Dashcam zeichnet auf, was auf der Fahrt vor zur Einmündung zu sehen ist. Frontal voraus: Ein Polizeimotorrad mit ausgefahrenem blinkenden Blaulicht – auf der freien Kreuzung gut zu erkennen, noch ehe die Haltelinie erreicht ist. Ein Polizist mit gelber Jacke steht daneben, winkt und ruft. Das Auto fährt weiter.

Die videotechnische Rekonstruktion der letzten Sekunden vor der tödlichen Kollision am 24. Juni 2024 an der Einmündung Löffelstraße (B 27) und Rubensstraße ist Teil des Amtsgerichts-Prozesses um den Unfalltod des Motorradpolizisten Thomas Hohn. Das Video, bereits am zweiten Verhandlungstag gezeigt, ist eigentlich eindeutig. Für den Verteidiger der 70-jährigen Angeklagten sind das jedoch nicht die tatsächlichen Sichtbedingungen seiner Mandantin – und somit die Bewertungen „unzutreffend und irreführend“, wie er in einem Beweisantrag festhält. Am dritten Prozesstag am Freitag werden die Feststellungen des Sachverständigen mit Spannung erwartet: Was verraten eigentlich die Unfallspuren auf dem Asphalt und an den Fahrzeugen?

Der Unfallgutachter stellt fest: Die BMW-Fahrerin habe nach dem Ausscheren fünf Sekunden und 35 bis 40 Meter klare Sicht auf das Polizeimotorrad mit Blaulicht gehabt, das nicht nur mitten auf der Kreuzung, sondern teilweise sogar in der Fortführung ihrer Linksabbiegerspur gestanden sei. Bereits an der Haltelinie, die noch einige Meter von der Einmündung zurückversetzt ist, habe die Angeklagte technisch gesehen vollen Sichtbereich auf die Kreuzung gehabt – inklusive des verkehrsregelnden Beamten, der seitlich versetzt zu seiner Maschine stand. „Das stehende Motorrad war sichtbar“, sagt der Gutachter, „mit Blaulicht noch besser.“

Gutachter: Das absperrende Motorrad war zu sehen

Der Standort des Motorrads des verkehrsregelnden 27-jährigen Beamten sei eindeutig. Dieses Motorrad sei zwar von der Maschine des getöteten 61-jährigen Hohn nach der Kollision erfasst worden. Kratzspuren des Seitenständers zeigten aber, dass es quer zur Rubensstraße und quer zu der Autofahrerin abgestellt war. Mit dem Heck in die Linksabbiegerkurve ragend. „Das konnte sie durchaus sehen“, so der Sachverständige. Den Aufenthaltsbereich des schwer verletzten Polizisten selbst könne man um acht Meter eingrenzen. Man könne technisch aber nicht ausschließen, dass die Fahrerin ihn nicht gesehen habe. Dazu hätte sie auf alle Fälle drei Sekunden Zeit gehabt.

Prozessauftakt im Stuttgarter Amtsgericht am 5. November. Foto: Christoph Schmidt/Lichtgut

Der tödliche Unfall hatte sich am 24. Juni 2024 gegen 11.18 Uhr an der Einmündung Löffelstraße (B 27) und Rubensstraße ereignet. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán sollte am Tag nach einem Fußball-EM-Spiel in Stuttgart von einem Hotel am Pragsattel zum Stuttgarter Flughafen begleitet werden. Dazu waren acht Motorradpolizisten als Begleitschutzkommando eingesetzt, die rollierend Einmündungen und Kreuzungen für den Konvoi freihalten sollten.

Unter anderem musste dazu auch der Querverkehr der Rubensstraße zum Warten angehalten werden. Laut Anklage stand dort an vierter oder fünfter Position eine BMW-Fahrerin, mindestens eine Minute, scherte dann plötzlich auf die Linksabbiegespur aus, fuhr an der Warteschlange vorbei nach vorne, missachtete dort ein Polizeimotorrad mit Blaulicht mitten auf der Einmündung und wohl auch den dazugehörigen 27-jährigen Motorradpolizisten, fuhr in die Kreuzung ein. Von links fuhr der 61-jährige Motorradpolizist Thomas Hohn heran, es kam zur Kollision, die für den Beamten tödlich endete. Sein jüngerer Kollege wurde schwer verletzt.

Andere Geschwindigkeiten, andere Folgen

Der Gutachter hatte zum Unfall noch andere Daten errechnet. Hätte oder wäre. Wäre die BMW-Fahrerin mit konstant 15 km/h zur Einmündung gefahren, hätte sie den von links heranfahrenden Motorradfahrer Hohn noch erkennen und rechtzeitig abbremsen können. Sie sei aber mit 26 km/h, ihre Aufprallgeschwindigkeit, gefahren. Wäre der Polizist im Sondereinsatz nicht mit 70 km/h, so seine Aufprallgeschwindigkeit, sondern mit Tempo 50 gefahren, wäre die Frau bereits vollständig über seine Fahrspur rüber gewesen.

Am Freitag hört die Richterin noch zwei Zeugen – einen Streifenbeamten, der als erstes am Unfallort war, sowie einen Autofahrer, der an zweiter Stelle in der Löffelstraße wartete. Der 48-Jährige berichtet von einem weiteren, einem dritten Polizeimotorrad, das noch vor dem Geschehen über die Kreuzung in Richtung Flughafen gerast sei. Der später tödlich verunglückte Motorradfahrer habe sich kurz darauf ebenfalls mit überhöhter Geschwindigkeit von der Weinsteige her genähert. „Das waren locker 130“, sagt er.

Verteidiger wirft der Richterin Willkür vor

Der Verteidiger der 70-Jährigen hatte nach dem zweiten Prozesstag einen neuerlichen Befangenheitsantrag sowie eine Dienstaufsichtsbeschwerde wegen „wiederholt willkürlichem Verhalten der Richterin“ vorgelegt. Die habe überwiegend nur solche Zeugen geladen, „auf deren Aussagen sie ihr verurteilendes Urteil stützen“ könne. Dem Sachverständigen des – zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Verhandlung vorgetragenen – Unfallgutachtens warf der Verteidiger vor, von „falschen Befundtatsachen“ ausgegangen zu sein. Er beantragte die Expertise eines zweiten Sachverständigen.

In einer gesonderten Pressemitteilung beklagte der Anwalt der 70-Jährigen einen „drohenden Justizskandal“ und eine „wegweisende Beschränkung der Verteidigung“. Der verkehrsregelnde Polizist, der schwer verletzt worden war, „hat zum Unfall und dem Tod seines Kollegen nicht weniger beigetragen als die Angeklagte“. Zum Auftakt am Freitag führt er Beschwerde über „eine Richterin, die deutsches Recht nicht anwendet und die Strafprozessordnung mit Füßen tritt“. Zum dritten Verhandlungstag hat er einen Anwaltskollegen zur Verstärkung mitgenommen. Der sagt, im Prozess sei ein wenig „die Optik verstellt, um was es wirklich geht“. Der Prozesstag, der nach abgelehnten beziehungsweise als wahr unterstellten Beweisanträgen mit dem Protest und einer erklärten Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten endete, wird am 27. November fortgesetzt.