- Schirwindt wurde im Ersten Weltkrieg zerstört; Bremen half beim Wiederaufbau maßgeblich durch das Engagement des Künstlers und Mäzens Leopold Biermann.
- Der 1914 gegründete ‚Kriegshilfsverein Bremen für Schirwindt‘, unter Biermanns Leitung, sammelte bis 1917 rund 500.000 Mark für den Wiederaufbau und setzte moderne soziale Ziele um.
- Nach Biermanns Tod 1922 würdigten Straßen in Bremen und Schirwindt seinen Einsatz, jedoch wurde Schirwindt 1944 erneut zerstört und existiert heute nicht mehr.
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Im äußersten Osten des Deutschen Reichs lag die ostpreußische Kleinstadt Schirwindt. Seit 1725 besaß sie das Stadtrecht. 150 Jahre später, im Sommer 1875, erblickte Leopold Biermann als Sohn des Bremer Zigarrenfabrikanten Friedrich Biermann und seiner Frau Bertha das Licht der Welt. Ziemlich genau 1000 Kilometer trennten Bremen, damals das Tor nach Amerika, von der Grenzstadt zu Litauen. Mit der Eisenbahn war man einen ganzen Tag unterwegs, zunächst acht bis neun Stunden mit der von Auswanderern bevorzugten „Amerikalinie“ über Uelzen und Stendal nach Berlin.
Weiter ging es elf bis 13 Stunden mit der „Preußischen Ostbahn“ bis Pillkallen, zuletzt zockelte man noch mal zwei Stunden mit der Pillkaller Kleinbahn über Groß Naujehnen, Groß Warupöhnen und Jodupöhnen nach Schirwindt. Der Ort lag also für Bremer „hinter dem Mond“. Erst seine Zerstörung im Ersten Weltkrieg brachte Bremen und Schirwindt zusammen. Eine entscheidende Rolle spielte dabei der wohlhabende Künstler und Mäzen Leopold Biermann.
Schneller als erwartet waren die russischen Truppen im August 1914 nach Ostpreußen eingedrungen. Die überraschten deutschen Streitkräfte mussten große Teile der Provinz vorübergehend räumen. Nach der Rückeroberung fanden sie ein verwüstetes Land vor. Viele Einwohner waren geflohen; Städte und Dörfer waren geplündert, Häuser verbrannt oder zerschossen, große Teile des Viehbestands waren verloren. Am stärksten getroffen hatte es das grenznahe Schirwindt mit seinen etwa 1300 Einwohnern. Zeitgenössische Fotos zeigen eine Trümmerlandschaft, man sieht fast nur Ruinen.
Keine Hilfe vom Bremer Senat
Der Kaiser versprach zwar Anfang 1915, „daß das, was Menschenkraft vermag, geschehen wird, um neues, frisches Leben aus den Ruinen entstehen zu lassen“. Doch die staatlichen Gelder reichten nur für die schlimmsten Schäden. Kommunale und private Initiativen waren gefordert. Gut 60 Städte verpflichteten sich als Paten von zerstörten Orten oder Landkreisen im Osten. Hilfsvereine sammelten Gebrauchtmöbel und Geld für den Wiederaufbau. Hamburg und Lübeck beteiligten sich nicht; auch der Bremer Senat lehnte es trotz einer Anfrage aus Schirwindt zunächst ab, bei der „Ostpreußenhilfe“ mitzumachen. Das sei eine preußische Angelegenheit, argumentierte der Senat, überdies habe man bereits 100.000 Mark an Hilfen zur Verfügung gestellt.
Da schlug die Stunde von Leopold Biermann. Der 39-Jährige war das, was man heute einen reichen Erben nennt. Sein Vater Friedrich hatte mit Zigarrenfabriken ein Vermögen gemacht. Mit über 70 Betrieben war er in Deutschland führend, seine Zigarren wurden in ganz Europa geraucht. Leopold war sein sechstes Kind. Der Junge wuchs zwar im Wohlstand auf, doch schon früh litt er an einer Wachstumshemmung. Nach dem Besuch des Alten Gymnasiums entwickelte er keine unternehmerischen Ambitionen, sondern fühlte sich zum Künstler berufen. Er studierte in Düsseldorf Malerei, erkannte jedoch, dass sein Talent zu einer künstlerischen Karriere nicht ausreichte. Zurück in Bremen widmete er sich fortan seiner Gemäldesammlung und förderte Kunsthalle und Theater.

Engagierte sich für das zerstörte ostpreußische Städtchen Schirwindt: der Bremer Mäzen Leopold Biermann.
Foto:
STAATSARCHIV BREMEN
In seiner Villa an der Blumenthalstraße verkehrten Künstler wie Max Liebermann, Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal. Mit Rudolf Alexander Schröder und Alfred Walter Heymel war er befreundet. Die Kunsthalle beschenkte er mit Werken von Max Liebermann, Ernst Barlach, Lovis Corinth und Emil Nolde. Beim Streit um den Ankauf von Vincent van Goghs Mohnfeld oder französischer Impressionisten stand er auf der Seite des Kunsthallenleiters Gustav Pauli.
Im Ersten Weltkrieg erwies sich Biermann als Patriot. Für den Militärdienst war er untauglich. Stattdessen sorgte er mit großem persönlichem Einsatz für verwundete oder kranke Marinesoldaten. Er gründete in Bremen zwei Marine-Lazarette, deren Kosten er zur Hälfte übernahm. Biermann beschränkte sich nicht auf das Öffnen des Geldbeutels. Wie Wilhelm Lührs vom Staatsarchiv 1960 schrieb, kümmerte er sich „um alle Einzelheiten und bewies sein hervorragendes Organisationstalent. Oft kam er zu überraschenden Inspektionsbesuchen, meistens teilte er selbst das Mittagessen an die Mannschaften aus und führte, wie bei ihm üblich, ein straffes Regiment“. Darüber hinaus richtete er in den Familiengütern „Gut Weilen“ und „Hoher Kamp“ in St. Magnus Marinegenesungsheime ein, die er aus privaten Mitteln finanzierte.
So nimmt es auch nicht wunder, dass Leopold Biermann das Schicksal Schirwindts und die Absage des Senats nicht ruhen ließen. Er war die treibende Kraft des „Kriegshilfsvereins Bremen für Schirwindt“, den er mit anderen Honoratioren gründete. Er brachte auch die Stadtväter dazu, schließlich doch die Patenschaft zu übernehmen. In der Satzung des Vereins standen erstaunlich moderne Ziele. Der Anfang war noch konventionell: Ziel sei es, „die staatlichen Hilfsmaßnahmen für den Wiederaufbau der durch den Krieg zerstörten ostpreußischen Stadt Schirwindt im Wege privater Fürsorge zu ergänzen“.
Was dann folgte, liest sich wie ein Programm zu Infrastruktur und sozialem Wohnungsbau. Gefördert werden sollten „Maßnahmen zur besseren Gestaltung des Wohnungswesens, der Stadtanlage und des Stadtbildes, […] die Errichtung wohnlicher Eigenheime mit größeren Gartengrundstücken als Ersatz für unhygienische und unsoziale Mietswohnungen“. Dort sollten bevorzugt Kriegsinvaliden und Kriegerwitwen sowie kinderreiche Familien angesiedelt werden. Gleichzeitig wollte der Verein durch Elektrifizierung das Kleingewerbe fördern und die rückständige Region modernisieren.
In einem Spendenaufruf erinnerte der Verein an die Handelsbeziehungen und „Kulturtaten“ der Hanse im Osten und appellierte an die Bremer, „diese östlichste Stadt Deutschlands wieder aufzurichten. Sie soll in ihrer neuen Gestalt ein schlichtes, bescheidenes, aber bleibendes Denkmal sein für das Verantwortungsgefühl der bremischen Bürgerschaft, für ihre Dankbarkeit und ihren deutschen Sinn“. Biermann und seine Mitstreiter schafften es bis 1917, durch Plakatwerbung, private Spenden, Lotterien und Benefizveranstaltungen 500.000 Mark zusammenzubringen. Patenschaftsteller aus der Königlichen Porzellanmanufaktur belohnten großzügige Spender.
Eine Ruinenstadt als Nationaldenkmal
Der Wiederaufbau Schirwindts war nicht unumstritten. Interessanterweise mischte sich 1916 auch Hans Paasche ein, ein zum Pazifisten und Lebensreformer gewandelter Marineoffizier. In seiner Zeitschrift „Der Vortrupp“ setzte er sich mit dem Vorschlag auseinander, „die von den Russen zerstörte Stadt Schirwindt in ihrer jetzigen Gestalt als Ruine zu belassen, um den kommenden Geschlechtern ein Nationaldenkmal aus Ostpreußens schwerster Zeit zu sein“. Seiner Meinung nach steckten kommerzielle Interessen hinter dieser Idee: „Wo den erschütterten Wanderer fromme Schauer erfassen sollten, da führt ein lebensfroher Touristenstrom die allerschönsten Gewinnmöglichkeiten ins Land.“ Das hätten solche Sehenswürdigkeiten so an sich. Bessere Gedenkorte seien die Soldatenfriedhöfe, „wo auf Ostpreußens Schlachtfeldern schlichte Kreuze etwas von Heldentum und Vaterlandsliebe zu erzählen wissen“.
Doch es blieb beim Wiederaufbau, der sich kriegsbedingt bis in die Nachkriegszeit hinzog. Schließlich konnten die Menschen ihre Stadt, jetzt auch mit Wasserleitungen und Kanalisation, wieder beziehen. Der Besuch einer bremischen Delegation in Schirwindt glich einem Triumphzug. Leopold Biermann wurde Ehrenbürger; Straßen wurden nach ihm und seiner Frau Alix benannt. Das Hotel in der Ortsmitte hieß jetzt „Bremer Hof“.
Lange konnten sich die Schirwindter ihrer neu erbauten Stadt nicht erfreuen. 1944 mussten sie vor dem Vormarsch der Roten Armee erneut fliehen. Diesmal wurde ihre Heimatstadt endgültig zerstört. Heute sucht man Schirwindt auf der Landkarte vergeblich. Übrig geblieben ist die Militärsiedlung Kutusowo im zu Russland gehörenden Bezirk Kaliningrad.
Biermann starb erst 46-jährig 1922 in München nach einer Nierenentzündung an Herzschwäche. Bei der Trauerfeier rief Rudolf Alexander Schröder dem Freund nach: „Als ein leuchtendes Beispiel stehst Du vor uns dessen, was der Geist über den Körper vermag.“ Seine Urne wurde im Familiengrab auf dem Riensberger Friedhof beigesetzt. Die Schirwindter Straße am Rand des Geteviertels erinnert an das ostpreußische Städtchen. Die Biermannstraße in Schwachhausen würdigt die Familie als Tabakindustrielle und Förderer des Bremer Kulturlebens.
Wie wirkte sich die Zerstörung und der Wiederaufbau Schirwindts auf die Erinnerungskultur in Bremen und in Ostpreußen aus?
Die Zerstörung und der Wiederaufbau Schirwindts und anderer Städte wirkten sich in Bremen und Ostpreußen unterschiedlich auf die Erinnerungskultur aus. In Bremen führte der Wiederaufbau zerstörter Wahrzeichen und die bürgerschaftliche Initiative zur Wiederherstellung der historischen Stadtsilhouette zu einer aktiven Pflege des kulturellen Erbes, wobei die Erinnerung an Zerstörung und Wiederaufbau Teil der kollektiven Identität wurde. In Ostpreußen hingegen blieb die öffentliche Erinnerungskultur lange zurückhaltend, da viele Geflüchtete sich zunächst auf die Bewältigung von Flucht und Integration konzentrierten; erst nach Jahrzehnten – insbesondere bei nachfolgenden Generationen – wuchs das Interesse an Herkunft und Geschichte, oft vermittelt durch landsmannschaftliche Organisationen und aus dem Bewusstsein des erlittenen Verlustes und der Vertreibung heraus.
Quellen
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