Natürlich will man vor allem die Sukowa endlich wiedersehen und ihre Stimme hören. Die Schauspielerin Barbara Sukowa ist nun 75, jedenfalls kalendarisch, sie hat in ihren Filmen seit der Mitte der 1970er-Jahre wie keine andere Künstlerin die deutsche Geschichte gespielt, in ihren weiblichen Ausprägungen: vom Mittelalter bis kurz vor der Gegenwart. Sie war Hildegard von Bingen, Rosa Luxemburg, Hannah Arendt, eine RAF-Terroristin. Sie hat die Visionen, die Sehnsucht, den Terror und die Liebe zur Vernunft verkörpert, in ihren diversen deutschen Variationen. Und immer, in allen Rollen, klang ihre Stimme ein wenig gepresst, ein Klang, an dem man die Sukowa erkennt, etwas Raues, das durch den Riss zwischen ihrer Härte und ihrer Weichheit nach außen dringt, unverwechselbar.

Jetzt kann man diese Frau wiedersehen, nun steht sie im Fokus einer brennend aktuellen deutschen Geschichte, Migrationspolitik, europäische Werte, und in ihr schießt zusammen, was bisher Sukowas Filmbiografie geprägt hat, nun aber alles zugleich: die Visionen, der Terror, die Sehnsucht, die Liebe zur Vernunft. Im Politthriller Klandestin von Angelina Maccarone herrscht die Gegenwart pur, vom ersten Bild an. Da ist die Skyline von Frankfurt am Main zu sehen, beherrscht durch die Banken, erleuchtet, eine Detonation zerreißt die Nacht, Blaulicht, Sirenen, das Fernsehen vermutet live: ein Terroranschlag, wohl Islamisten.

Unverzüglich macht der Film dann vier Menschen als ein Geflecht ineinander verschlungener Biografien erkennbar, die Bezüge werden pointiert aufgebaut. Am Bildschirm in ihrem Apartment sitzt die konservative Europa-Politikerin Tilda Marquardt allein vor den Nachrichten, das ist die Sukowa, ihr alter Freund Rick (Lambert Wilson) ruft sie an, ein Londoner Künstler, der sich gerade, Szenenwechsel, in Nordafrika aufhält und wegen der Terrornews in Sorge um sie ist. Ebenso alarmiert, nächster Cut, sehen wir eine junge marokkanische Frankfurterin im Bus telefonieren, das ist die Juristin Amina (Banafshe Hourmazdi). Und dann, unvermittelt, noch ein Schnitt, ist da Malik (Habib Adda), ein schöner arabischer Junge, Model des Künstlers, er lässt sich von Rick nach Europa schmuggeln, ohne dessen Wissen im Lieferwagen versteckt. Nur wenige Filmminuten sind vergangen, und man weiß: Diese vier Menschen werden einander zum Schicksal werden. Rick will weiter nach London, liefert den Illegalen Malik in Frankfurt bei Tilda ab, irgendwo muss der ja wohnen, und Amina, als Assistentin der Politikerin, wird die Einzige sein, die nach Lösungen sucht, um die Tragödie aufzuhalten, die unaufhaltsam scheint.

Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 17/2025. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.

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Es sind diese vier Geschichten, die immer wieder in Tildas Frankfurter Apartment zusammenlaufen, und Angelina Maccarone erzählt sie nacheinander, wir bewegen uns also in Wiederholungen, Versionen, Lücken, Perspektivwechseln und Wahrnehmungsverschiebungen durch den Stoff dieses Thrillers.

Z+

Z+ (abopflichtiger Inhalt);

Wirtschaftswachstum in Deutschland:
Null Komma null, und trotzdem gut gelaunt

Z+ (abopflichtiger Inhalt);

Namensrecht:
Was ab Mai beim Nachnamen erlaubt ist

Z+ (abopflichtiger Inhalt);

„Der blinde Fleck“ von Stephan Lebert und Louis Lewitan:
Das untertunnelte Land

Aber in allen Versionen der Geschichte bezieht der Stoff seine emotionale Hochspannung aus den Sehnsüchten, die diese vier Menschen treiben: Malik zieht es existenziell nach Europa, um für die Familie etwas Geld zu verdienen. Den alternden Rick zieht es zu diesem jungen Mann und dessen Lebendigkeit. Die Politikerin Tilda in ihrem stählernen Gehäuse der Macht sehnt sich nach Nähe, raus aus der Einsamkeit, und die ehrgeizige Juristin Amina, eine alleinerziehende Mutter, wird von einer vitalen Sehnsucht nach Gerechtigkeit getrieben – für sich selbst, aber eben auch für den jungen Illegalen, der von einer Not in die nächste gerät, während die besten Anwälte den Schutz der deutschen Politikerin übernehmen.

Zuletzt rollt die Sukowa im Dienstwagen aus dem Bild, unbelangbar, wie zum Klischee des doppelzüngigen Europa erstarrt, und plötzlich wirkt sie, als ziehe sie sich raus aus der deutschen Geschichte, die sie seit Jahrzehnten gespielt hat. Es reicht. In den Fokus rückt eine andere, die junge Juristin, die sich nun dem ewigen Ringen um die Menschlichkeit stellt. Wie einst Hildegard von Bingen, Rosa Luxemburg, Hannah Arendt. Die nächste Frau, bitte, denkt man unwillkürlich, noch ein Versuch mit der deutschen Geschichte. Dieser Versuch ist zugewandert.