Am Ende war das Wahlergebnis keine Überraschung mehr. Als bei der Hauptversammlung des Stuttgarter Mietervereins im Haus der Wirtschaft nach dreistündiger Redeschlacht die Stimmen ausgezählt wurden, entsprachen die Zahlen der Stimmung im proppenvollen großen Saal: Mehr als 70 Prozent der Mitglieder hatten für den Geschäftsführer Ralf Brodda (56) als neuen Vorsitzenden votiert. Der seit vier Jahrzehnten amtierende Chef Rolf Gaßmann (74) kam nur auf gut 25 Prozent. Brodda warb umgehend für die Wiederwahl der bisherigen Stellvertreter, Gaßmann packte ohne sichtbare Regung auf dem Podium seine Sachen und setzte sich herunter ins Publikum.
Es war das Ende eines spektakulären Showdowns, wie ihn der Mieterverein in seiner 125-jährigen Geschichte wohl noch selten erlebt hat. Mit fast allen Mitteln kämpfte Gaßmann gegen den Kontrahenten, den er erst vor drei Jahren als Geschäftsführer geholt hatte – und Brodda hielt kaum weniger zimperlich dagegen, demonstrativ unterstützt von der einheitlich in blauen Vereins-T-Shirts auftretenden Belegschaft. Auf offener Bühne tobte ein Schlagabtausch, bei dem sich die Rivalen und ihre jeweilige Gefolgschaft nichts schenkten. Je mehr die wechselseitigen Attacken ans Eingemachte gingen, desto angewiderter zeigten sich viele Mitglieder. Die Selbstzerfleischung nutze nur dem eigentlichen Gegner, hieß es an einem Tisch: „Der Haus- und Grundbesitzerverein kann sich freuen.“
Zu Auftakt ein Überraschungscoup
Begonnen hatte die Versammlung mit einem Überraschungscoup von Gaßmann. Er hatte kurzfristig einen Vorstandsbeschluss herbeigeführt mit dem Ziel, die Wahlen zu verschieben. Begründung: es drohe eine Anfechtung, weil Mitgliederlisten von Rechtsberatern genutzt worden seien, um zuletzt beratene Mitglieder zur Wahl von Brodda zu ermuntern. Darin erblickte der Vorsitzende einen Datenschutzverstoß, den er dem zuständigen Landesbeauftragten zur Prüfung zugeleitet hatte. Wenn dessen Ergebnis vorliege, solle eine unabhängige Person eine neue Versammlung vorbereiten und eine Findungskommission einen neuen Kandidaten für den Vorsitz suchen. Bedingung: Es dürfe kein Angestellter des Vereins sein, also nicht Brodda. Er habe „die Reißleine ziehen“ müssen und bitte bedrängte Mitglieder um Entschuldigung, sagte Gaßmann.
Auf den Vorstoß folgte eine hoch kontroverse Debatte. Der Vorsitzende wolle die Wahlen „auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben“, rügte die langjährige Geschäftsführerin des Mietervereins, Angelika Brautmeier. Er müsse wohl „mit den Füßen zuerst aus der Geschäftsstelle getragen werden“. Auch andere Unterstützer Broddas sahen „überhaupt keinen Grund, die Wahlen abzusagen“. In ihm habe man einen höchst geeigneten Kandidaten.
„In der Politik nennt man das Diktatur“
Die Fürsprecher Gaßmanns wurden nicht weniger deutlich. Geschäftsführung und Vorsitz in einer Hand, Arbeitgeber und zugleich Arbeitnehmer – das fanden mehrere Redner problematisch. Wo bleibe da die Kontrolle? „In der Politik nennt man das Diktatur“, meinte einer. Erst 2022 hatte der Mieterverein diese Konstellation freilich per Satzungsänderung ermöglicht. Der Grund: es werde immer schwieriger, Ehrenamtliche zu finden. Die Warnung vor einer Machtkonzentration sei „Quatsch“, erwiderte Brodda, die gebe es eher heute – ein Seitenhieb auf Gaßmann. Ein altgedientes Mitglied fühlte sich angesichts der Wahldebatte gar an Trump‘sche Methoden erinnert. Sein sarkastischer Kommentar: „Und morgen kommt der Sturm aufs Capitol.“ Mit klarer Mehrheit wurde eine Verschiebung schließlich abgelehnt.
Doch die wechselseitigen Attacken gingen auch danach weiter. Gaßmann nutzte seinen Rechenschaftsbericht, um Brodda erneut anzugreifen. Persönlich „enttäuscht“ sei er von ihm, „zu großzügig“ gehe der mit dem Geld der Mitglieder um. Gemeint war ein Konflikt um die Vergütung des Rechtsberaters Stefan Conzelmann trotz dessen Freistellung als SPD-Ratsfraktionschef. Umgekehrt wurden auch Gaßmann jene etwa 30 000 Euro vorgehalten, die er bis 2023 jährlich als Honorar für die Prüfung der Erfolgsaussichten von Rechtsfällen erhielt.
„Bitte ersetzen Sie Herrn Gaßmann“
Immer wieder beklagten Redner das Niveau der Auseinandersetzung, als „unwürdig“ oder „erschreckend“. Der in Jahrzehnten aufgebaute gute Ruf des Mietervereins könne rasch zerstört werden. „Mir tut es in der Seele weh, wie hier aufeinander eingeschlagen wird“, bekannte ein Altgedienter. Ein anderer zeigte sich „zutiefst erschüttert“ über das Geschehen und meinte: „Die Mitarbeiter tun mir leid.“ Am Ende kam die komplette Belegschaft auf die Bühne, um Brodda den Rücken zu stärken. „Jeder ist ersetzbar“, rief ihr Sprecher in den Saal, „bitte ersetzen Sie Herrn Gaßmann durch Herrn Brodda“. Der empfahl sich als jemand, „der Brücken baut“ – und überzeugte damit am Ende die klare Mehrheit. Als strahlender Sieger präsentierte er sich trotzdem nicht, zu viele Wunden hatte die Redeschlacht auf allen Seiten geschlagen.
Offen blieb zunächst zudem, ob Gaßmann die Abwahl akzeptiert. Eine Anfechtung, hatte er angekündigt, werde er sich in Ruhe überlegen. Er könne nicht abgeben?, sage man ihm nach. Seine Replik: „Doch, ich kann.“