Weil eine kleine Verunreinigung im Trinkwasser festgestellt wurde, spielte Wiesbaden verrückt: Man diskutierte die Gefahren des Händewaschens „mit kontaminiertem Wasser“ und die Frage, ob man zum Blumengießen abgekochtes Wasser nutzen solle. Der Fall sagt viel über Deutschland.

Mit Risiken hat es der Mensch nicht so. Erst recht nicht mit sehr kleinen. Damit rational, was hier vor allem meint: verhältnismäßig, umzugehen, fällt ihm schwer.

Mustergültig war das gerade in meiner Heimatstadt Wiesbaden zu beobachten. Bei einer routinemäßigen Trinkwasseruntersuchung war einmalig an einer einzigen Messstelle eine bakteriologische Verunreinigung festgestellt worden – alle weiteren Tests waren okay. Die Behörden sprachen daraufhin ein „vorsorgliches Abkochgebot für Trinkwasser“ aus, das gesundheitliche Risiko sei ansonsten „leicht erhöht“, insbesondere für Säuglinge, Schwangere und immungeschwächte Personen.

Die Aufregung daraufhin konnte kaum größer sein. Zahnarztpraxen sagten Termine ab, beflissene Muttis diskutierten im Klassenchat die Gefahren des Händewaschens „mit kontaminiertem Wasser“ und auf Facebook wurde die Frage erörtert, ob man auch zum Blumengießen und fürs Aquarium abgekochtes Wasser nutzen solle.

Den Behörden ist dabei kein Vorwurf zu machen. Sie verhielten sich gemäß geltender Bestimmungen, und als Bürgerin will ich so etwas durchaus wissen. Denn so konnte ich kurz den Aufwand überschlagen, für einen fünfköpfigen Haushalt, in dem drei Mahlzeiten am Tag gereicht werden, sämtliches Wasser abzukochen. Ich konnte in Rechnung stellen, dass nach meinem Kenntnisstand niemand bei uns schwanger ist und daher in Anbetracht der geringen Eintrittswahrscheinlichkeit eines echten Schadens beschließen, das behördliche Abkochgebot gepflegt zu ignorieren.

Staatlichen Risikokalkulation

So einfach geht das sonst nicht. Denn in der Regel hängt der Bürger in der staatlichen Risikokalkulation mit drin, ob er will oder nicht. Am drastischsten war das natürlich in der Pandemie. Da wurde über zwei Jahre ein ganzes Land lahmgelegt, um ein einzelnes gesundheitliches Risiko zu minimieren. Gesundheitliche Risiken anderer Art, ebenso der humanitäre, soziale, psychische, kulturelle und volkswirtschaftliche Schaden, der durch diesen rigorosen Kurs angerichtet wurde, wurden weitgehend ignoriert.

Auch die hiesige Klimapolitik folgt einer ganz eigenen Risikoabwägung. Kaum jemand bestreitet, dass ihre Auswirkung aufs Weltklima irgendwo zwischen nicht messbar und nicht existent liegt. Dennoch ist es geradezu verpönt, über die immensen Kosten dieser Politik für unseren Wohlstand und unsere Freiheit auch nur zu sprechen. Klimaschutz soll jeglicher Abwägung enthoben sein.

Der Geist dahinter ist stets derselbe: Es ist der des Vorsorgeprinzips, das auf den Philosophen Hans Jonas zurück geht und das primär Risikovermeidung verlangt. Man solle „die schlechtere Prognose der besseren vorziehen“, so Jonas, und sich daher im Zweifel, wenn eine Gefahr nicht restlos ausgeschlossen werden kann, gegen den Einsatz etwa einer neuen Technologie entscheiden.

Das zentrale Problem dabei ist: Der Nutzen, der einem dadurch entgeht, wird ausgeklammert oder bestenfalls als nachrangig behandelt. Auch die Kosten der Vermeidung eines Risikos – im Trinkwasser-Fall etwa: Dehydrierungen, weil Menschen aus Furcht nicht mehr genug trinken – werden nicht systematisch berücksichtigt. So wirkt das Vorsorgeprinzip, das nicht etwa von seinen Kritikern als „Heuristik der Furcht“ geschmäht wurde, sondern das Jonas selbst so nannte, systematisch innovationshemmend.

Dennoch (oder deswegen?) ist das Vorsorgeprinzip tief in der Umwelt-, Gesundheits- und Verbraucherpolitik verankert. Die EU hat es sogar auf Verfassungsebene festgeschrieben. Das Verbot der grünen Gentechnik entstammt diesem Geist, die – ich behaupte: paranoide – Datenschutz- und KI-Regulierung ebenfalls. Und in Deutschland zeigt der Ausstieg aus der Kernenergie, wohin eine konsequente Anwendung führen kann: in einen energiepolitischen Amoklauf, bei dem nur noch ab-, nichts mehr angeschaltet wird.

Deutschland befindet sich derzeit in der längsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Wenn wir ökonomisch wieder ein Bein auf den Boden bekommen wollen, dann müssen wir zunächst einmal hier ansetzen.

Kristina Schröder war von 2002 bis 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages und von 2009 bis 2013 Bundesministerin für Familien, Senioren, Frauen und Jugend. Heute ist sie unter anderem als Unternehmensberaterin tätig und als stellvertretende Vorsitzende von REPUBLIK 21, Denkfabrik für neue bürgerliche Politik. Sie gehört der CDU an und ist Mutter von drei Töchtern.